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Chinas starke, aber noch nicht vollständige Erholung nach dem grossen Lockdown

10.11.2020 7 Min.
  • Gerwin Bell, Lead Economist für Asien, Global Macroeconomic Research Team

Chinas starke Erholung nach dem grossen Lockdown (Ausdruck dem IWF entliehen) ist eine weitere Wende in einem Jahr voller Überraschungen.

Zudem haben die chinesischen Behörden im Gegensatz zu offiziellen Vertretern anderer grosser Volkswirtschaften die Absicht betont, gross angelegte Konjunkturmassnahmen zu vermeiden. Dies führte bei einigen Beobachtern erneut zu Bewunderung von Chinas Fähigkeiten, die westlichen Länder in einer vermutlich nachhaltigeren Weise zu übertreffen. Wie nachfolgend dargestellt, halten wir diese Ansicht für ziemlich falsch.

China kann Konjunkturmassnahmen anderer Länder für sich nutzen

Chinas Wirtschaftsdaten haben seit Mai meist positiv überrascht. Die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft ist ein wesentlicher Grund für die jüngsten Anhebungen der Wirtschaftsprognosen für die Industrienationen und die Welt insgesamt. Chinas wirtschaftlicher Aufschwung hat im Vergleich zu anderen Industrieländern eine deutlich andere Form angenommen. Die Entwicklung der Industrieproduktion und der Exportwirtschaft in China ähnelt einer „Quadratwurzel“- bzw. „Swoosh“-Form und hat das Wachstum in den USA und in der Eurozone bei weitem übertroffen. Andererseits bleibt die chinesische Konsumnachfrage – gemessen an den Einzelhandelsumsätzen – stark hinter den V-förmigen Erholungstrends in den USA und der Eurozone zurück (Abbildung 1).

Abb. 1: Chinas Industrieproduktion, Warenexporte fast auf Vorkrisenniveau; Einzelhandelsumsätze schwach

Die Situation widerspricht auch allgemeinen Annahmen über das Land. Was ist mit der Angst vor Protektionismus, der Einführung von Zöllen und Technologiebeschränkungen und der Neuausrichtung des chinesischen Wachstumsmodells auf den Konsum?

Entgegen der weitverbreiteten Meinung

Chinas Exportstärke spiegelt den Überfluss an Konjunkturmassnahmen anderer Industrienationen wider. Ausserhalb Chinas liegt der Schwerpunkt der Konjunkturpolitik derzeit auf der Einkommensunterstützung durch grosszügige Transferleistungen. Dies stützt die Nachfrage, während die Produktion über weite Teile des Jahres eingeschränkt blieb. Chinas Priorisierung der Produktion hat es dem Land ermöglicht, die erhöhte Nachfrage zu befriedigen, und die Warenexporte konnten sich infolgedessen auf das Niveau von 2019 erholen.

Die externe Nachfrage aus anderen Industrienationen hat es China gestattet, seine eigenen geldpolitischen Massnahmen zu begrenzen. Tatsächlich weisen das Geldmengenwachstum, die Zentralbankbilanz und die steigenden Zinsen bereits auf eine beginnende Straffung der Geldpolitik hin. Hinzu kommt, dass das chinesische Haushaltsdefizit zwar sehr gross ist, sich aber seit 2019 nicht wesentlich ausgeweitet hat, was eine wirksame Einkommensunterstützung für die Verbraucher verhindert. Da der Einkommensschock für ärmere Haushalte nicht durch Transferleistungen ausgeglichen wurde, erholt sich der Konsum nur langsam.

Das soll aber nicht heissen, dass China völlig auf Konjunkturmassnahmen verzichtet hat. Tatsächlich hat das Land entgegen offiziellen Verlautbarungen traditionelle investitionsgetriebene Konjunkturmassnahmen ergriffen. Auch hier weicht die chinesische Politik von dem in anderen Ländern verfolgten Ansatz ab, da die öffentlichen Investitionen (vor allem in den Bereichen Infrastruktur und Immobilien) eine V-förmige Erholung erfahren haben, während die Investitionen des Privatsektors stärker zurückgegangen sind, als dies in der übrigen Welt der Fall war.

Offene Fragen

Obwohl der wirtschaftliche Aufschwung in China beeindruckend ist, ist er heterogen verlaufen und nach der aktuellen Datenlage vermutlich nicht nachhaltig. Erstens hat der wirtschaftliche Aufschwung überwunden geglaubte Muster wieder aufleben lassen, wie zum Beispiel steigende Aussenhandelsüberschüsse und steigende inländische Verschuldung. Zweitens bestehen konkrete Deflationsrisiken und die Zahlungsbilanz zeigt einige besorgniserregende Entwicklungen.

Im Inland verdeutlicht der Investitionsschub einmal mehr die Gefahr von Überkapazitäten und erneuten Immobilienblasen. Ausserdem hat das Investitionswachstum auch das Schuldenwachstum wieder angefacht, was die Weichen für eine Gesamtverschuldung des Landes von über 300 % BIP gestellt und die Hoffnungen auf einen Schuldenabbau zunichte gemacht hat. Aufgrund der vergleichsweise restriktiven Geldpolitik profitiert auch das Schattenbankensystem von der Investitionswelle. Banken sehen sich zunehmend gezwungen, unrentable, quasi fiskalische Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich Sache des Staats wären. Infolgedessen ist ein Grossteil der in den letzten acht Jahren gemachten Fortschritte bei der wirtschaftlichen Neuausrichtung und beim De-Risking/De-Leveraging wieder verloren gegangen.

Die Kombination aus restriktiver Geldpolitik, investitionsgetriebenem Wachstum und der Abhängigkeit von der Auslandsnachfrage führt zu Disinflations-, wenn nicht sogar Deflationsdruck. Die niedrige Inflation hat sich als zusätzliche Bedrohung für das Erreichen eines hohen nominalen Wirtschaftswachstums erwiesen, das bislang ein Schlüsselfaktor für die Tragfähigkeit der chinesischen Schulden war.

Zudem droht die Entwicklung der letzten Monate eine neue Eskalation im Handelskonflikt auszulösen. Der Anstieg des chinesischen Handelsüberschusses könnte gerade im Vorfeld der US-Wahlen politischen Zündstoff bieten. Darüber hinaus hat Chinas Handelsbilanzüberschuss gegenüber dem Euroraum sogar das Niveau von Ende 2019 überschritten, was angesichts der Exportabhängigkeit Europas ebenfalls zu einer Gegenreaktion führen könnte.

Schliesslich sind die vorstehend genannten Risiken wohl auch chinesischen Investoren nicht entgangen, da die Zahlungsbilanz im 2. und 3. Quartal Kapitalabflüsse in Höhe von etwa 275 Milliarden US-Dollar verzeichnete. Die Abflüsse sind besonders überraschend, wenn man die hohen Zuflüsse aufgrund des steigenden Leistungsbilanzüberschusses und die zunehmende Zahl chinesischer Anleihen bedenkt, die in internationale Indizes aufgenommen werden. Die zugrundeliegende Natur dieser Abflüsse ist im Moment jedoch schwer zu erkennen. Dies ist ein Thema, das Investoren aufmerksam verfolgen sollten.

Gedämpfte Aussichten

Vor diesem Hintergrund können einige vorläufige Schlussfolgerungen gezogen werden:

Die zweite Amtszeit von Präsident Xi ist bislang nicht glücklich verlaufen. Seine volkswirtschaftlichen Initiativen – Kapazitätskürzungen, Schuldenabbau, eine Neuausrichtung zum Konsum, hohe Einkommenszuwächse für die Armen und technologische Modernisierung (China 2025) – sind ins Stocken geraten. Darüber hinaus wird selbst bei einem erwarteten positiven Wachstum von etwa 2,5 % im Jahr 2020 das Wachstumsziel von 6,5 % gemäss dem Fünfjahresplan 2016-2020 nicht erreicht werden – ein Novum in der Post-Reform-Periode der letzten 30 Jahre. Da die Vorstellung eines neuen Fünfjahresplans bevorsteht, bleibt abzuwarten, ob es Anpassungen bei der Konjunkturpolitik geben wird und ob Präsident Xi in Bezug auf eine dritte Amtszeit mit zunehmendem politischen Gegenwind rechnen muss.

Unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen besteht das Risiko einer Ausweitung des globalen Protektionismus. Auch aufgrund der zunehmend aggressiven Aussenpolitik Chinas haben eine Reihe anderer Länder bereits Massnahmen ergriffen, zum Beispiel die Einschränkung chinesischer 5G-Technologie in Europäischen Ländern. Eine Rückkehr zu grossen Handelsüberschüssen würde die handelspolitischen Spannungen wahrscheinlich noch verstärken.

Wir erwarten, dass China erhebliche Massnahmen zur Unterstützung der Konjunktur ergreifen wird. Angesichts der Deflationsrisiken und der hohen Gesamtverschuldung wird dies höchstwahrscheinlich eine geldpolitische Lockerung beinhalten, einschliesslich Zinssenkungen. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, die Kapitalflüsse zu überwachen, da sich die chinesischen Sparer dazu entscheiden könnten, ihr Geld lieber im Ausland anzulegen, was den Wechselkurs belasten würde.

2021 wird das Wachstum aufgrund statistischer Basiseffekte optisch höher aussehen. Selbst bei einem relativ moderaten sequentiellen Wachstum im nächsten Jahr führt dieser Übertragungseffekt dazu, dass unsere Wachstumsprognose für 2021 bei 9 % liegt. Investoren sind daher gut beraten, wenn sie angesichts der Unsicherheiten im Zusammenhang mit der bisherigen Wirtschaftserholung in China über die Gesamtwachstumszahlen hinausblicken.

 

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Dr. Gerwin Bell ist Principal und Lead Economist für Asien im Global Macroeconomic Research Team von PGIM Fixed Income. Dr. Bell wechselte 2012 vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zu PGIM Fixed Income. Als Mission Chief des IWF für Europa war Dr. Bell für eine Reihe von Industrienationen und Schwellenländern verantwortlich und verhandelte in dieser Eigenschaft zahlreiche Kreditprogramme für den IWF. Davor war er massgeblich an der Gestaltung der IWF-Politik zur Umschuldung des öffentlichen und privaten Sektors beteiligt und überwachte die Bemühungen zur Nationenbildung auf dem Balkan. Vor seiner Zeit beim IWF lehrte Dr. Bell an Universitäten in Deutschland und den USA. Dr. Bell hat zahlreiche Länderpublikationen und wirtschaftspolitische Arbeiten für den IWF verfasst und eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten in anerkannten Fachzeitschriften veröffentlicht. Er hat einen Master in Economics an der Universität Trier und der Yale University erworben und promovierte in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Trier.

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