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payoff Focus

Deutschland: Der Herbst der Entscheidung

02.09.2021 10 Min.
  • Serge Nussbaumer, Chefredaktor

Wenige Wochen vor dem Urnengang ist der Ausgang der Bundestagswahlen so offen wie nie. Obwohl Deutschland vor einer politischen Zeitenwende stehen könnte, bleiben die Börsianer gelassen. Der DAX kletterte im Sommer auf neue Rekordmarken – die anstehende Reform und Erweiterung könnte den Reiz des Deutschen Aktienindex bei den Investoren weiter erhöhen.

Bayern erlebt gerade eine Stadiontour der besonderen Art. Im Freistaat sind keine Rock- und Popgrössen wie U2, Metallica oder Herbert Grönemeyer unterwegs. Corona-bedingt fiel der Konzertsommer 2021 in Deutschland dürftig aus. Vielmehr tourt Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder durch das von ihm geführte Bundesland. In insgesamt sieben Fußballstadien macht der Franke bis zum 17. September halt. Normalerweise bringen die CSU-Grössen im Wahlkampf riesige Bierzelte zum Kochen. Die Pandemie zwingt die Partei an die frische Luft und zu einer stark begrenzten Besucherzahl.

Der gewählte Rahmen passt irgendwie gar nicht zum stets auf die grosse Bühne drängenden Vollblutpolitiker Söder. Und doch ist die bei kaltem und regnerischem Wetter gestartete Tour durchaus symbolisch für die prekäre Lage der Konservativen. Nach 16 Jahren in der von Angela Merkel geführten Regierung muss die Union aus CDU und CSU um ihren Führungsanspruch bangen. Bei der Bundestagswahl am 26. September könnte es zu einem Machtwechsel kommen. Nach einem kurzen Aufbäumen im Frühsommer sind die Umfragewerte von CDU/CSU wieder eingebrochen. Während auch die zwischenzeitlich favorisierten Grünen Federn lassen mussten, kann sich die SPD plötzlich Hoffnungen auf das Kanzleramt machen. Infratest Dimap sah die Sozialdemokraten Ende August nur noch knapp hinter der Union (siehe Grafik 1). Bei den Erhebungen des Meinungsforschungsinstituts Forsa zog die SPD sogar zum ersten Mal seit 15 Jahren am derzeitigen Koalitionspartner vorbei.

«Vielmehr tourt Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder durch das von ihm geführte Bundesland.»

Politische Farbenspiele

Einen Monat vor dem Urnengang zeigte die Demoskopie verschiedene Regierungsbündnisse auf. Bei einem Sieg der Union könnte ihr Spitzenkandidat Armin Laschet theoretisch mit SPD und Grünen oder den Sozialdemokraten und der FDP eine Mehrheit bilden. Darüber hinaus wäre die vor vier Jahren in den Verhandlungen gescheiterte Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP eine Option. Sollte dagegen die SPD das Rennen machen, könnte Olaf Scholz eine «Ampel» mit FDP und Grünen auf die Beine stellen. Gleiches gilt für einen wenig wahrscheinlichen Wahlsieg der Öko-Partei. Für den Machtmenschen Söder kommen die letztgenannten Konstellationen wohl einem Albtraum gleich. «Ich habe keinen Bock auf Opposition», sagte er beim Start seiner Tournee.

Fest steht, dass die Bundesrepublik auf einen Herbst der politischen Unwägbarkeiten zusteuert. Obwohl eine solche Gemengelage den Investoren eigentlich nicht gefällt, erlebte der deutsche Aktienmarkt einen Sommer der Rekorde. Mitte August kletterte der DAX zum ersten Mal über die Marke von 16‘000 Punkten (siehe Grafik 2). Die Rallye steht auf einem breiten Fundament: Zu den Top-Performern im DAX zählt 2021 der Logistikriese Deutsche Post genauso wie die Telekom oder der Autobauer VW. Dagegen trägt die mit Problemen bei der spanischen Windkrafttochter Gamesa kämpfende Siemens Energy die rote Laterne (siehe Grafik 3).

«Fest steht, dass die Bundesrepublik auf einen Herbst der politischen Unwägbarkeiten zusteuert.»

Aufschwung mit Risiken

Die Börsenparty geht mit einem konjunkturellen Aufschwung einher. «Die Lockerung der Corona-Restriktionen hat die deutsche Wirtschaft wieder anspringen lassen», stellt Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank, fest. Nachdem die grösste Volkswirtschaft Europas im zweiten Quartal um 1.5% gewachsen ist, rechnet er für das laufende Viertel- jahr mit einer Fortsetzung der Erholung. Für dieses Szenario spricht laut Krämer einerseits die weiter expansiv ausgerichtete Geld- und Finanzpolitik. Gleichzeitig verweist er darauf, dass die privaten Haushalte während der Pandemie zwangsläufig mehr gespart haben. «Schon eine Rückkehr zur vorherigen Sparquote würde die privaten Konsumausgaben antreiben», erklärt der Experte.

In der Research-Abteilung der Commerzbank sind allerdings auch die Risiken ein Thema. Krämer nennt hier unter anderem die sich ausbreitende Delta-Variante. Ausserdem hätten die Unternehmen mit Lieferschwierigkeiten bei Vorprodukten wie Halbleitern zu kämpfen. «Wir haben Anfang August den gestiegenen Konjunkturrisiken Rechnung getragen», berichtet Jörg Krämer. Anstelle von 4.0% geht die Commerzbank in Deutschland für 2021 nun von einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von 3.3% aus.

Vergleichsweise günstige Bewertung

Aufwärtsrevisionen prägten dagegen in den vergangenen Monaten die Unternehmensgewinne. Nachdem die deutschen Konzerne sowohl für das 1. Quartal als auch zum Halbjahr starke Zahlen präsentierten, schraubten die Analysten ihre Erwartungen nach oben. Konkret trauen die Experten den 30 DAX-Mitgliedern für das laufende Kalenderjahr mittlerweile einen Überschuss von umgerechnet 1‘100 Indexpunkten zu. Damit bewegt sich der Konsens rund ein Viertel über dem Niveau von Ende 2020. Behalten die Experten Recht, würde der aufaddierte Gewinn 2021 um mehr als 40% wachsen.

«Da die Aufwärtsrevision das Kursplus beim DAX übertrifft, ist die Bewertung geschrumpft.»

Da die Aufwärtsrevision das Kursplus beim DAX übertrifft, ist die Bewertung geschrumpft. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis für 2021 beträgt 14.4. Damit zeigen die deutschen Large Caps gegenüber anderen Börsenplätzen einen Discount. In Relation zum US-Leitbarometer S&P 500 beträgt der Abschlag mehr als ein Drittel. Mit den Gewinn- sind auch die Dividendenerwartungen gestiegen. Mittlerweile rechnen die Analysten im DAX für 2021 mit einer Ausschüttungssumme von umgerechnet 450 Indexpunkten – das sind 17% mehr als noch Anfang Jahr. «Damit bietet der DAX weiterhin eine relativ attraktive Dividendenrendite von 3.0%», erklären die Commerzbank-Analysten.

Frischzellenkur für den Leitindex

Eine Art Extra-Kick könnte dem Index eine im September anstehende Reform verpassen. Die Deutsche Börse möchte ihr Leitbarometer verstärkt an die internationalen Gepflogenheiten anpassen. Das Herzstück bildet die Aufstockung des DAX um zehn auf 40 Mitglieder. Zwar fällt die Entscheidung, welche Aktien nachrücken, erst Anfang September. Doch sollte dem DAX in jedem Fall eine Art Frischzellenkur ins Haus stehen. Tabelle 1 zeigt zwölf Unternehmen, welche gemessen an der Marktkapitalisierung in der Rangliste der Deutschen Börse auf die 30 aktuellen Indexmitglieder folgen. An der Spitze steht Airbus. Wegen der Hauptnotiz in Paris reichten die Börsenumsätze des europäischen Luft- und Raumfahrtkonzerns in Frankfurt bisher nicht für eine DAX-Aufnahme. Durch die Reform wird die Kapitalisierung das ausschlaggebende Kriterium. Mit dem Online-Modehändler Zalando und dem Kochboxenlieferanten HelloFresh drängen gleich zwei E-Commerce-Unternehmen in den Leitindex. Während der Laborausrüster Sartorius und Siemens Healthineers die Bedeutung des Gesundheitssektors stärken würden, könnte mit Puma nach Adidas ein zweiter Sportartikelhersteller in die Benchmark einziehen.

«Eine Art Extra-Kick könnte dem Index eine im September anstehende Reform verpassen.»

Steuerpolitik im Fokus

In seiner neuen, stärker diversifizierten Aufstellung wird der DAX ab dem 20. September, genau sechs Tage vor der Bundestagswahl, berechnet. Möglicherweise zeichnet sich dann schon etwas deutlicher aber, welche Richtung die Bundesrepublik einschlagen wird. Nach Ansicht von Martin Moryson, DWS-Chefvolkswirt Europa, ist allein wegen des föderalen Systems nicht mit einem abrupten Politikwechsel zu rechnen. Bei vielen wichtigen Gesetzen hat der Bundesrat ein Mitbestimmungsrecht. Insofern können die dort vertretenen und aus den unterschiedlichsten Parteien zusammengesetzten Länderregierungen Einfluss auf das Geschehen in Berlin nehmen.

«Der Steuerwettbewerb nach unten ist aus der Mode geraten»

«Für die Kapitalmärkte relevant sind insbesondere programmatische Unterschiede bei Steuern, Ausgabenpolitik und europäische Fiskalunion», meint Moryson. Bei der Analyse der Programme hat der Ökonom festgestellt, dass vor allem die Parteien mit Chancen auf eine Regierungsbeteiligung in ihren Zielen recht vage bleiben. Angesichts der Tatsache, dass die Regierung in jedem Fall aus einer Koalition bestehen wird, sei dies nicht verwunderlich. «Je mehr rote Linien man vor der Wahl gezogen hat, desto komplizierter gestalten sich später die Verhandlungen», schreibt Moryson in einer Analyse.

In der Fiskalpolitik hat er die grössten Unterschiede zwischen dem linken und dem bürgerlichen Lager festgestellt. «Geht man nach den Wahlprogrammen, so würde eine bürgerliche Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP die Steuerzahler über die gesamte Einkommensverteilung steuerlich entlasten», stellt der Experte fest. Sollte es dagegen zu einer – aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlichen – Koalition aus SPD, Linken und Grünen kommen, kämen wohl Steuererhöhungen auf die höheren Einkommen zu.

Ähnlich verhält es sich bei der Belastung der Unternehmen. «Während die CDU die Steuer auf einbehaltene Gewinne auf 25% begrenzen will, streben die Grünen eine EU-weite Mindestbesteuerung von 25% an», erklärt Moryson. Gleichzeitig verweist der DWS-Fachmann auf die kürzlich international verabschiedete Mindestabgabe für Unternehmen. Obwohl die Beschlüsse noch recht vage seien, machen sie seiner Meinung nach eines deutlich: «Der Steuerwettbewerb nach unten ist aus der Mode geraten.»

Schwarz-Grün als Basisszenario

Alles in allem kommt der Ökonom zu dem Fazit, dass sich unabhängig vom Wahlausgang in Deutschland nicht so viel ändern wird. Einerseits herrsche in der Parteienlandschaft bei wichtigen Fragestellungen wie dem Klimawandel oder Europa ein breiter Konsens. Anderseits dürfte keine Regierung über eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag verfügen. «Grundgesetzänderungen wären nur im breiten Konsens möglich», betont Moryson. Folgerichtig sieht er auch keine allzu grossen Auswirkungen auf die Kapitalmärkte. «Eine konservativ-bürgerliche Koalition könnte aufgrund ihrer stärker marktwirtschaftlich ausgerichteten Politik an den Aktienmärkten positiv aufgenommen werden», schreibt der Volkswirt. Dagegen würde eine linke Regierung eher für etwas Unruhe sorgen.

«Anderseits dürfte keine Regierung über eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag verfügen.»

Passive und strukturierte Anlageideen

Für den deutschen Aktienmarkt bleiben also über den 26. September hinaus die Fundamentaldaten entscheidend. Und diese fallen angesichts der soliden Wirtschaftserholung und einer im internationalen Vergleich nicht übertriebenen Bewertung recht positiv aus. Natürlich könnte neben dem Urnengang eine vor allem in den USA immer wahrscheinlicher werdende geldpolitische Straffung für Verunsicherung sorgen. Gerade für langfristig orientierte Anleger bietet die laufende Konsolidierung oder mögliche stärkere Rücksetzer im Herbst aber gute Einstiegsgelegenheiten.

«Natürlich könnte neben dem Urnengang eine vor allem in den USA immer wahrscheinlicher werdende geldpolitische Straffung für Verunsicherung sorgen.»

Zu den an SIX kotierten DAX-ETFs zählt der passive Fonds XDAX. Xtrackers verwaltete in diesem Vehikel rund CHF 4.5 Milliarden. Nicht nur die Grösse auch die tiefe Gesamtkostenquote (TER) von 0.09% jährlich kann sich sehen lassen. Während Anleger mit diesem ETF den Übergang des DAX auf 40 Mitglieder nahtlos mitnehmen, steht dem MDAX im September ein kleiner Aderlass bevor – die Mid Cap-Benchmark dürfte rund die Hälfte ihres Gewichts verlieren. Nicht nur deswegen könnte für Anleger der Blick in die dritte deutsche Börsenreihe interessant sein. Im SDAX sind auch in Zukunft 70 Aktien enthalten. Im langfristigen Vergleich haben die Small Caps gegenüber den Schwergewichten ohnehin die Nase vorne. Als einziger Anbieter handelt Lyxor an SIX einen SDAX-ETF. Für das Produkt C005 fällt eine vergleichsweise hohe TER von 0.70% an.

«Nicht nur deswegen könnte für Anleger der Blick in die dritte deutsche Börsenreihe interessant sein.»

Seinen Reiz hat der deutsche Markt auch für die Couponjäger. Ein Beispiel: UBS hat die beiden Essenslieferdienste Delivery Hero und HelloFresh für eine Neuemission zusammengespant . Beim Callable Barrier Reverse Convertible KJJGDU macht das möglicherweise bald gemeinsam im DAX vertre- tene Duo eine prozentual zweistellige Ausschüttung möglich. Die Chance in Höhe von 14.75% p.a. verknüpft die Emittentin mit einem Risikopuffer von 40%.

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