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payoff Interviews

«Die Geldpolitik der letzten Jahre scheint die Schere zwischen Arm und Reich deutlich geöffnet zu haben.»

12.05.2016 10 Min.
  • Dieter Haas

William White, Vorsitzender des Prüfungsausschusses für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen bei der OECD in Paris, über die negative Zinssatzpolitik einiger Zentralbanken, sonstige Stimulierungsmöglichkeiten, die Risiken, Helikopter-Geld, Vollgeld-Initiative, Brexit, den Wirtschaftsausblick und den bestmöglichen Ausgang aus der heutigen Situation.

Die klassischen Konjunkturprogramme der Zentralbanken sind ausgeschöpft. Die Wirtschaft zeigt bereits eine Wachstumsverlangsamung und zu deren Wiederbelebung führen einige Zentralbanken inzwischen Strafzinsen ein. Bringt das den ersehnten Erfolg?

In den letzten Jahren haben die Zentralbanken vermehrt unkonventionelle geldpolitische Massnahmen eingesetzt, um die Gesamtnachfrage zu steigern. Dessen ungeachtet ist das Wirtschaftswachstum deutlich zurückhaltend geblieben und unerwünschte Nebeneffekte machen Schlagzeilen. Strafzinsen auf die Mindestreserven der Banken sind nur ein weiterer Schritt in diese Richtung. Das könnte sich sogar als kontraproduktiv erweisen, da die Gewinne der Banken weiter gedrückt werden, was im Endeffekt die Kreditvergabe zusätzlich erschweren dürfte.

Nach Meinung vieler Experten werden Strafzinsen als gut eingeschätzt, solange wir positive Realzinssätze haben. Stimmen Sie dem zu?

Grundsätzlich steht dahinter das Bestreben, die Situation zu verhindern, in der die Deflation zu einer Erhöhung der Realzinsen führt, während die Nominalzinsen durch die Null-Prozent-Untergrenze beschränkt sind. Höhere Realzinssätze drücken den Konsum, was wiederum zu einer potenziellen Erhöhung der Deflation führt und so in einer Deflationsspirale endet. Schliesslich wird sich diese Problematik in dem Masse verringern, in dem die Null-Prozent-Untergrenze durchbrochen werden kann. Meiner Meinung nach wird aber die Bedrohung durch eine derartige Deflationsspirale masslos überschätzt.

Welche Möglichkeiten bleiben den Zentralbanken noch ausser Strafzinsen? Ist mit der Einführung eines Bargeldverbots oder anderen Massnahmen zu rechnen?

Eine Gefahr von Strafzinsen ist, dass Banken im Tausch für ihre Mindesteinlagen Banknoten von der Zentralbank einfordern. Dasselbe könnten auch die Sparer von ihren Banken verlangen, falls diese Strafzinsen verlangen sollten. Grundsätzlich können die Zentralbanken das natürlich limitieren. Und tatsächlich haben auch schon einige Wirtschaftswissenschaftler vorgeschlagen, dass Banknoten zurückgezogen werden sollten und alle Transaktionen nur noch elektronisch getätigt werden. Derart drastische Änderungen sind eher unwahrscheinlich, da sie das Vertrauen der Verbraucher erschüttern und sich daher als kontraproduktiv erweisen würden.

«Strafzinsen könnten sich als kontraproduktiv erweisen, da die Gewinne der Banken weiter gedrückt werden, was im Endeffekt die Kreditvergabe zusätzlich erschweren dürfte.»

Was sollte also ein Anleger in dieser Situation tun? Sind Edelmetalle, Minenwerte oder gar Bargeld der Ausweg aus dem gegenwärtigen Anlagedilemma?

Nachdem die Renditen für «sichere» Anlagen so niedrig sind, müssen Investoren risikoreichere Investments in Betracht ziehen. Da die Kurse für solche Anlagen – zum Beispiel Aktien, Risikopapiere, Gold und Immobilien – hoch gehandelt werden, hoffen die Zentralbanken, dass die Eigner sich wohlhabender fühlen und daher mehr ausgeben. Das erste Glied in dieser Kette, also höhere Kurse, ist bereits ersichtlich; das zweite allerdings noch nicht. Weshalb? Weil die Leute erkennen, dass es unklug ist, künstlich geschaffenes Vermögen auszugeben, das sich schon morgen in Luft auflösen könnte, wenn die Vermögenswerte wieder fallen.

Der kritischste Faktor ist die weiterhin zunehmende Verschuldung in fast allen Staaten. Wie kann dieses weltweite Problem überwunden werden?

In gewisser Hinsicht besteht das Problem nicht darin, dass die Massnahmen der Zentralbank nicht greifen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall: sie greifen zu gut. Niedrige Kreditzinsen und unkonventionelle Massnahmen verführen die Leute dazu, mehr Schulden zu machen, entweder um das geliehene Geld auszugeben oder um auf Vermögenspreise zu spekulieren. Zwischen 2007 und 2014 stieg das Schuldenniveau von 210% auf 250% des Bruttoinlandsprodukts. In den Industrieländern sind die privaten Kreditnehmer zurückhaltender, der Zuwachs der Schulden geht zum grossen Teil auf Unternehmenskredite in den Schwellenländern zurück. Die Problematik des «Schuldengegenwinds» ist jetzt tatsächlich weltumfassend geworden.

Was sind die grössten Risiken, wenn es zu keiner Änderung der gegenwärtigen Geldpolitik der Zentralbanken kommt?

Das grundlegende Problem ist nicht die Geldpolitik der Zentralbanken, sondern die der Regierungen. Das Problem des Schuldengegenwinds ist im Wesentlichen ein Problem von Zahlungsunfähigkeit. Das können Zentralbanken nicht beheben. Sie haben immer wieder betont, dass sie nur Zeit gewinnen wollen, damit die Regierungen Massnahmen ergreifen können. Soweit das möglich ist, sollte Haushaltexpansion die Infrastruktur verbessern. Der Lohnanteil an den Gesamteinkünften sollte steigen und Strukturreformen sollten konsequent durchgeführt werden. Schulden sollten geordnet umstrukturiert werden. Ohne all dies werden untragbare Schulden durch eine weitere schwere Rezession ungeordnet umstrukturiert werden.

 «Die Leute erkennen, dass es unklug ist, künstlich geschaffenes Vermögen auszugeben, das sich schon morgen in Luft auflösen könnte, wenn die Vermögenswerte wieder fallen.»

Prof. em. Peter Bernholz sieht wachsende Gefahren für eine Hyperinflation, wenn 40% aller Staatsausgaben von der Zentralbank finanziert werden. In Japan wurde dieses Niveau vor Kurzem erreicht, aber bisher gibt es noch keine Anzeichen für eine Hyperinflation. Was muss passieren, damit der Krug zum Brunnen geht, bis er bricht?

In Bezug auf Ihre vorhergehenden Fragen hatte ich ja schon angedeutet, dass Geldpolitik angesichts eines hohen Verschuldungsgrades im Grunde nicht dazu geeignet ist, höhere Wachstumsraten und damit auch eine höhere Inflationsrate zu bewirken. Allerdings benennt Peter Bernholz eine wichtige Ausnahme, wenn sowohl Haushaltsdefizite als auch Verschuldungsgrad völlig aus dem Ruder laufen. Wenn es auf der Kippe steht, verstehen die Märkte, dass die Abhängigkeit von der Zentralbank unweigerlich allumfassend wird und dass die Krise da ist. Japan befindet sich in gefährlichem Fahrwasser, aber glücklicherweise ist es noch zu keinem Vertrauensbruch gekommen.

Was ist Ihre Meinung zur Helikoptergeld-Idee?

Manche Leute halten das ja für das Wundermittel, das uns von dem Schuldenproblem erlösen kann.
Unter Helikoptergeld versteht man den koordinierten Einsatz von Fiskal- und Geldpolitik zur Anregung der Konjunktur. Im Endeffekt vergrössert der Staat das Haushaltsdefizit und die Zentralbank finanziert es, indem sie ihre Bilanzsumme vergrössert. Das Problem dabei ist, dass viele Staaten das bereits getan haben, wenn auch in einer unkoordinierten Weise, und es hat nicht zu dem gewünschten Effekt geführt. Das heisst aber auch nicht, dass weitere Massnahmen derselben Art nicht zum Erfolg führen würden. Um also auf Ihre letzte Frage zurückzukommen: Meine Hauptsorge wäre der mögliche Vertrauensverlust in die Autoritäten, mögliche inflationäre Auswirkungen unter Kontrolle zu halten.

Könnte die «Vollgeld-Initiative» in der Schweiz eine Lösung für die gegenwärtigen Probleme bringen?

Die «Vollgeld-Initiative» ist ein Vorstoss, eine Art von «Narrow-Banking-System» in der Schweiz einzuführen. Die ursprüngliche Idee stammt aus den 1930er-Jahren und geht auf einige namhafte amerikanische Wirtschaftswissenschaftler zurück. Gegenwärtig schaffen Banken Geld und Kredit durch eine Erhöhung sowohl auf der Aktiv- als auch auf der Passivseite, was in der Vergangenheit häufig zu «Boom-Bust-Zyklen» geführt hat. Das «Narrow Banking» würde dieses Privileg beschneiden und den Zentralbanken das alleinige Recht auf Geldschöpfung übertragen. Ich halte das für eine sehr attraktive Idee, auch wenn es viele Gegenargumente gibt. Vorerst möchte ich nur so viel dazu sagen: Es bedarf noch weiterer Untersuchungen.

«Japan befindet sich in gefährlichem Fahrwasser, aber glücklicherweise ist es noch zu keinem Vertrauensbruch gekommen.»

Die Nachwirkungen der Finanzkrise von 2008 haben die Kluft in der Vermögensverteilung zwischen Reich und Arm grösser werden lassen. Ausserdem haben sie zu einer Verschiebung der politischen Mitte nach rechts oder links geführt. Was sind die Gefahren, die von dieser Entwicklung ausgehen?

Die Geldpolitik der letzten Jahre scheint die Schere zwischen Arm und Reich beim Vermögen deutlich geöffnet zu haben. Die Vermögenswerte, die gestiegen sind, befinden sich vor allem in den Händen der Superreichen. Einleger aus der Mittelschicht erhalten dagegen keine Zinsen. Aktuellen wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge haben die Finanzkrisen seit 1870 häufig zu einer Polarisierung der politischen Meinung geführt. Dabei waren hauptsächlich die rechten Flügel die Nutzniesser. Momentan sehen wir eine derartige Entwicklung in vielen Ländern – ich möchte da nur zwei Namen nennen: Trump und Sanders.

Wie ist Ihre Haltung zum EU-Referendum am 23. Juni in Grossbritannien? Wird es tatsächlich mittel- bis langfristig eine positive Auswirkung haben, wie Boris Johnson, der Bürgermeister von London, kürzlich behauptete?

Ganz ehrlich, in Wahrheit weiss keiner genau, welche langfristigen Auswirkungen ein Brexit nach sich zieht. Ich persönlich glaube, dass es so ausgehen wird wie die meisten Scheidungen: teurer und schlimmer als ursprünglich erwartet. In einer Zeit, in der Regierungen zunehmend kooperieren müssen angesichts der Globalisierung von Unternehmen, Technologien, Sicherheitsbedrohungen und komplexen Systemen aller Art, sendet die Absicht, im Alleingang handeln zu wollen, das falsche Signal.

Was erwarten Sie in weltwirtschaftlicher Hinsicht in den nächsten Monaten? Werden wir eine allgemeine Rezession erleben? Was ist Ihre Hauptsorge?

Obwohl ich keine Rezession voraussage, würde es mich nicht wundern, wenn sich das Wachstum abschwächen würde, vielleicht sogar mehr als die meisten gegenwärtig erwarten. Jedes geografische Gebiet hat seine offensichtlichen Schwachstellen. China befindet sich in einer Übergangsphase zu einem neuen Wachstumsmodell. Abenomics in Japan funktioniert nicht. Viele Schwellenländer leiden unter den niedrigen Rohstoffpreisen und höherer Verschuldung. Was Europa betrifft, kennen Ihre Leser die Probleme besser als ich. Angesichts der Realität der Globalisierung führen zudem Probleme in einem Teil der Welt wahrscheinlich auch zu Problemen in einem anderen. Auch die USA sind davor nicht gefeit. Das wäre meine Hauptsorge.

Was ist das optimistischste Ergebnis, das Sie sich vorstellen können für die Stabilisierung des jetzigen unstabilen Systems?

Das günstigste Ergebnis ergäbe sich, wenn die G20-Regierungen gemeinsam die Politik verfolgen würden, die ich oben vorgeschlagen habe. Ich wiederhole mich hier: nicht die Zentralbanken, sondern die Regierungen. Wir könnten auch Glück haben und einen technologiebedingten Aufschwung des Wirtschaftswachstums erleben und somit die Möglichkeit, Schulden zu tilgen. In dem kürzlich erschienenen Buch von Brynjolfsson and McAfee (The Second Machine Age) vertreten die Autoren die Ansicht, dass wir uns am Rande einer solchen Revolution befinden. Hoffentlich haben sie recht.

 

VITA

William White ist der Vorsitzende des Prüfungsausschusses für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen bei der OECD in Paris. Von 2009 bis 2012 war er Mitglied der Issing-Kommission, die die deutsche Kanzlerin in G20-Fragen berät. White ist Mitglied im Beratungsausschuss des Institutes für globale Wirtschafts- und Geldpolitik (Global and Monetary Policy Institute) bei der Federal Reserve in Dallas sowie des Institute for New Economic Thinking. 2014 verlieh ihm der Monetary Workshop den Preis für sein Lebenswerk für die Theorie und Praxis von Monetärer Ökonomie.
White war ausserdem Wirtschaftsberater und Leiter der Währungs- und Wirtschaftsabteilung der Bank for International Settlements (BIS) in Basel. Zuvor war er in verschiedenen Funktionen bei der Bank of Canada beschäftigt, darunter als stellvertretender Gouverneur für internationale Angelegenheiten. Neben zahlreichen Veröffentlichungen wird er oft in Zeitungen zitiert. White und seine Kollegen von der BIS waren unter den Ersten, die vor der Krise 2007 gewarnt hatten und darauf hinwiesen, dass diese schwer, global und lang andauernd sein werde.

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