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«In zehn Minuten Millionär»

16.01.2015 7 Min.

Die überraschende SNB-Entscheidung zur Aufhebung des Mindestkurses sorgt für eine Achterbahnfahrt an der Schweizer Börse und drastischen Reaktionen im Devisenmarkt. Auch am Tag 2 sind tausende Anleger mit Hebel- und Anlageprodukten im Portfolio vom Markteingriff der Nationalbank betroffen.

Seit einigen Tagen lag etwas in der Luft. Gerüchte aus den einschlägigen Finanzzentren London, Zürich und New York um die künftige Zins- und Wechselkurspolitik der Notenbanken zirkulierten anfangs noch als ein verwirrendes Puzzle. So war in Marktkreisen bereits am Montag zu hören, dass angeblich der US-Dollar in Abstimmung von FED, SNB und EZB geschwächt werden sollte (payoff MarketPulse berichtete). Andere orakelten, «dass der SNB bald die Luft ausgeht». Passiert ist einen Tag lang gar nichts.

Atemlos am Trading-Desk

Das Blatt wendet sich jedoch schlagartig. Die nüchterne Medienmitteilung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) am Morgen des 15. Januar riss den gesamten Finanzmarkt aus dem gewohnten Takt. Es geht dabei um Milliardensummen: Die SNB hebt den Mindestkurs von 1.20 Franken pro Euro auf. Zugleich senkt sie den Zins für Guthaben auf den Konten um 0,50% auf −0,75%. Das Zielband für den Dreimonats-Libor verschieben die Notenbanker weiter in den negativen Bereich auf –1,25% bis −0,25% von bisher −0,75% bis 0,25%. «Als wir feststellten, dass die Euro-Franken-Untergrenze unterschritten wurde, konnten wir es erst nicht glauben», berichtet Eric Blattmann, Head Public Distribution Financial Products bei der Bank Vontobel.

Ein Tag fürs Geschichtsbuch

Nach wenigen Augenblicken Schockstarre und Atemlosigkeit ging alles ganz schnell. Die Folgen sind drastisch, über alle Anlageklassen hinweg. «Während für Optionen wenig handelbare Preise gestellt wurden, waren die Umsätze in den Aktien mit einem Rekordvolumen von CHF 323 Milliaren deutlich über dem durchschnittlichen 15 Tage Volumen von CHF 64 Milliarden», beobachtete Florian Kübler, Leiter Verkauf Strukturierte Produkte (IHVS) von der Zürcher Kantonalbank. Insgesamt musste der Schweizer Aktienmarkt und die dort aktiven Anleger ein Kurssturz besonderer Dimension erleben. Egal ob Blue-Chip oder KMU, an der Schweizer Börse ist ein hochgerechneter Wert von gut CHF 100 Milliarden vernichtet worden. «Ein Tag für die Geschichtsbücher», ist Florian Stasch, Head Marketing & Sales Exchange Traded Solutions bei der BNP Paribas überzeugt.

Hebeltrader brauchten starke Nerven

Wenig verwunderlich, dass bei solchen Events die Computerserver diverser Banken, Onlinebroker und Finanzportale schlicht überrannt wurden. Besonders im Fokus standen Strukturierte Produkte. Mit diesen kann in beide Kursrichtungen investiert werden, man spricht von asymmetrischen Auszahlungsprofilen. Die ungewöhnlich starke Kursbewegung riss, einem Tsunami gleich, etliche Notierungen in die Tiefe – oder katapultierte andere in luftige Höhen. Etliche Anleger, die routiniert in Hebelprodukte und Futures investieren, wurde mit Shortwetten sehr positiv überrascht. «Innert 10 Minuten hatten einige Trading-Kunden plötzlich mit zunächst zweihunderttausend Franken Depotwert knapp eine Million erreicht», ist von einem Anlageberater zu hören. Doch gab es auch lange Gesichter und rote Köpfe. Nach aktuellen Daten von Derivative Partners wurden gestern die relevanten Kursbarrieren von rund 300 Knock-Out-Warrants, über 330 Mini-Futures und 260 Barrier Reverse Convertibles sowie einigen Bonuszertifkaten binnen weniger Minuten gerissen.

Wahre Umsatzrekorde

«Die Ankündigungen der SNB waren ein Schock, obwohl es im Vorfeld schon von verschiedenen Seiten Stimmen gegeben hat, dass die Untergrenze fallen werde. Kunden und Investoren wollen jetzt mehr Klarheit gewinnen, was der Schritt der SNB wirklich bedeutet», so Willi Bucher, Head of Structured Distribution bei der Bank Julius Bär. Wer stark in Cash investiert war, nutzte diese einmalige Chance für Kauforders. «Es gab Neupositionierungen in Aktien, ETFs und Futures, nur teilweise über Strukturierte Produkte», skizziert Bucher die Stimmung seiner Kunden. Mehr Dampf im Kessel erfuhren Emittenten wie BNP Paribas oder Bank Vontobel. «Die Anleger reagierten prompt auf die neue Situation. Die Umsätze und die Anzahl der Trades waren sehr hoch», so Florian Stasch. Offenbar hat es aber auch viele Profis, oder solche, die sich als Profi-Trader sehen, böse erwischt. Speziell wer Devisen handelte stand im Orkantief. Jüngste Wasserstandsmeldung kam heute früh vom führenden Schweizer Onlinebroker Swissquote Bank. Dort hat man angekündigt, CHF 25 Millionen an Rückstellungen bilden zu müssen. Schlimmer traf es Global Brokers in Neuseeland. Im Anschluss an die Entscheidung der SNB war das gesamte Kapital des Unternehmens aufgefressen – die Firma wird per sofort von der neuseeländischen Finanzaufsicht liquidiert. Der grösste FX-Anbieter für Privatanleger in den USA, FXCM, bezifferte die Verluste seiner Kunden auf rund USD 225 Millionen.

Vielfältige Kaufchancen

Doch wie immer an der Börse, gibt es stets zwei Seiten der Medallie. «Trading-orientierte Investoren können mittels Hebelprodukten von neuen Chancen profitieren, denn in den FX-Markt ist nun Volatilität gekommen. Konservativere Anleger können sich demgegenüber die höheren Volatilitäten am Schweizer Aktienmarkt zunutze machen – beispielsweise über bessere Produktkonditionen bei Barrier Reverse Convertible. Möglicherweise bieten sich bei bestimmten Titeln bald gute Einstiegslevel, denn die Kurse könnten überzogen reagieren», ermuntert Eric Blattmann. Die Übertreibungen am Aktienmarkt sind dabei teilweise sehr ausgeprägt. «Einige grosse Schweizer Firmen hängen nur schwach vom Franken ab, haben aber trotzdem stark korrigiert. Nestlé produziert zum Beispiel weltweit mit lokalen Kostenstrukturen und erwirtschaftet nur rund 2% seines Umsatzes in CHF. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei Novartis und Roche», konkretisiert Florian Kübler die aktuellen Kaufchancen. «Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wird! Wer jetzt keine Schweizer Qualitätstitel zu Disountpreisen ins Depot nimmt, verpasst die Chance des Jahres», so die klare Meinung eines Wealth Managers einer bekannten Grossbank der anonym bleiben möchte.

Neue Realitäten

Ebenfalls zu beherztem Handeln rät Nicolas Walon, Head Financial Engineering bei der Bank J. Safra Sarasin. «Wir raten daher Anlegern, die derzeit im Geldmarkt aktiv sind, eine Anlage in Renditeoptimierungsprodukten auf Schweizer Basiswerten zu überlegen. Die höhere Volatilität schafft attraktive Chancen», so der Experte. «Es wäre sicher falsch, tatenlos die Märkte zu verfolgen. Im aktuellen Umfeld gilt es bestehende Positionen zu überprüfen und allenfalls taktische Investitionen einzugehen. Beispielsweise könnten sogenannte Optimal Entry Zertifikate dem Anleger in diesem Marktumfeld einen Mehrwert bieten.» stimmt Manuel Dürr, Head Public Distribution bei Leonteq Securities in den Chor ein. Auch bieten die erhöhten Volatilitäten interessante Opportunitäten bei Renditeoptimierungsprodukten. «Hier kann durch den Einsatz von europäischen Barrieren das Risiko einer Barriere-Verletzung deutlich reduziert werden», so Derivatexperte Dürr weiter. In Summe zeigen die Top-Umsätze der SIX Structured Products Exchange heute ein gemischtes Bild – doch haben heute schon weitere 170 Hebelprodukte «gehittet». Eine ganz andere Dimension zeichnet sich beim Schweizer Konsumenten ab. Der Zürcher Kantonalbank (ZKB) gehen nach Medienberichten langsam die Euro aus. «Wegen der hohen Nachfrage könnte es sein, dass bald einige Filialen keine Euro mehr haben», sagt ZKB-Sprecherin Evelyne Brönnimann. «Wir brauchen jetzt einfach noch die Bestände auf.» Unterdessen rechnet man im grenznahen Deutschland am kommenden Wochenende mit bis zu 20.000 Besuchern aus der Schweiz – Ausverkauf auf eine andere Art.

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