Katerstimmung auf dem Kontinent
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Thomas Wulf
Was bedeutet ein starker Staat für die Finanzbranche?
2022 wird als weiteres Schicksalsjahr in die Geschichtsbücher eingehen. Ein «Black Swan Event» in Form des russischen Überfalls auf die Ukraine hat die Bewohner der Festung Europa aus ihrem Tiefschlaf wachgerüttelt. Die Rückbesinnung auf den Umstand, dass ein Volk immer noch gut daran tut, sich mit Waffen verteidigen zu können, ist dabei nur die erste verschwommene Erkenntnis nach dem Aufwachen. Ewige Hausse an den Aktienmärkten – vorbei. Energie aus Sibirien zum Discounttarif — Vergangenheit. Jahrelange Geldschöpfung zum Nullzins ohne Entwertung – eine volkswirtschaftliche Absurdität und durch springflutartige Inflation in fast allen OECD-Volkswirtschaften nur noch Stoff für die Geschichtsbücher. Neue Anlagewelten im virtuellen Raum – schöne Phantasien, aber durch unschöne Marktvorkommnisse erst einmal gründlich diskreditiert.
Steht Europa nun wieder am Abgrund? Glücklicherweise wohl eher nicht, vielmehr ist der Kontinent zu einer Art «neuer Normalität» zurückgekehrt, allerdings keiner komfortablen. Wie seit Jahrhunderten geht es Grossmächten (zumindest einer) ganz banal um Landgewinn. Geld kostet auch wieder etwas. Energiepreise unterliegen letztlich doch dem Markt und der kann auch mal verrückt spielen (das gilt übrigens in beide Richtungen, wer sich erinnert –Rohöl der Marke Brent kostete zwischenzeitlich auch mal «nichts»). Aktienkurse steigen nominell zwar langfristig noch immer, aber eben nie stetig. Und dann folgte ja nicht nur im holländischen Blumenhandel auf Phasen der Investoreuphorie noch immer die Ernüchterung.
Da stehen wir nun, frei nach Brecht, «enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.» Was wartet auf Europa? Der russische Angriff ist zunächst einmal ein, gar nicht so wenigen Menschen vielleicht etwas unangenehmer, Hinweis auf die Unverzichtbarkeit staatlicher Autorität. Zwar sind auch freie Kapitalmärkte in der Lage, Regierungen in die Knie zu zwingen. Geschichtlich gesehen ist der Zinssatz der Staatsanleihe ein Hebel (und auch Machtinstrument) erster Güte. Allerdings gilt das immer nur mittel- bis langfristig. Panzer aufhalten kann der Zinssatz nicht. Die angekündigte Generalüberholung der deutschen Bundeswehr als auch die NATO-Beitritte von Schweden und Finnland geben denn auch einen Vorgeschmack auf den Handlungsspielraum der nationalen Politik, den man vielerorts schon auf Belange der öffentlichen Gesundheit und den Ausbau von Infrastruktur beschränkt glaubte. Das hat sich geändert. Strategische Autonomie, das von Frankreich so geliebte Konzept eines aus sich heraus starken Europas (mit der landestypischen industriepolitischen Prägung versteht sich) gewinnt auf einmal Anhänger, die der Idee eigentlich kritisch gegenüberstanden. Das transatlantische Bündnis, stark wie es gottlob ist, stellt auch die Frage danach, ob man als Kontinent wirklich immer auf den Schutz der Vereinigten Staaten angewiesen sein darf. Nicht mehr unwahrscheinlich scheint mit einem Mal die flächendeckende Wiedereinführung der Wehrpflicht, die in fast allen europäischen Ländern eigentlich als endgültig abgeschafft galt. Der starke Staat will zurück.
Angesichts all dessen stellt sich die Frage danach, ob dieses wieder erstarkende souveräne Selbstbewusstsein auf Belange der Verteidigung beschränkt ist oder ob es sich, sei es bewusst und zielstrebig oder auch nur langsam und ungeplant, auf weitere Bereiche von Politik und Gesellschaft ausdehnt. Die Vorhersage ist nicht einfach. Massnahmen wie Energiepreisdeckelungen, die Verstaatlichung einzelner Schlüsselunternehmen (wie der Gazprom-Tochter Uniper), die diskutierte Errichtung von Handelsbarrieren gegenüber verbündeten Staaten wie letztlich auch die durch engagierte Zentralbanken veranlassten Zinsschritte können in ihrer Summe als Ausdruck einer «neuen» Eigendynamik hoheitlichen Handelns gelesen werden.
Was bedeutet dies wohl für den Finanzsektor? Leider, so scheint mir, nicht unbedingt nur Gutes. Wenn es hart auf hart kommt, sprich mit strategischer Autonomie Europas Ernst gemacht wird, wird sich der Finanzsektor natürlich fügen und seine Rolle spielen. Dies ginge an sich noch an. Arge Bauchschmerzen verursacht allerdings die Vorstellung, dass die in den vergangenen Jahren immer mehr zur Gewohnheit werdende Tendenz, politische Ziele über die Regulierung des Finanzsektors zu erreichen, sich als Normalität und Dauerzustand in Politikerköpfen einnistet. Die derzeitige Praxis, den Banken innerhalb der EU die umfassende Überprüfung der Gesetzestreue ihrer Kunden aufzubürden (so bei den EU-Geldwäschevorschriften und in massiv zunehmendem Masse bei der Richtigkeit von ESG-Angaben von Kreditnehmern), spricht leider dafür, dass derartige Zustände durchaus hingenommen werden. Warum ist das so? Der Grund liegt aus meiner Sicht darin, dass auf europäischer Ebene die normalerweise von Staaten genutzten Anreize zur politisch motivierten Steuerung einzelner Bereiche der Wirtschaft nicht verfügbar sind. Die EU hat keine eigene Steuerhoheit, kann also keine grünen Investitionen durch Steueranreize fördern. Statt an der Steuerschraube zu drehen, geht sie über den Finanzsektor und will letztlich über die Kreditvergabe politische Ziele befördern.
In Anbetracht des hohen Stellenwertes, den Steuervorschriften kraft ihrer Hebelwirkung für jeden Staat besitzen, wird die EU-Kommission gerade in Zeiten wiederentdeckter (nationaler) Autonomie wohl auch weiterhin in dieser Zwickmühle stecken bleiben. Auf Ebene der Mitgliedstaaten wiederum sieht man, dass die Steuerhoheit auch gegenüber dem Finanzsektor wiederentdeckt wird. Unschönes Beispiel ist der Ruf nach Abschöpfung von Zinsgewinnen in Folge der Zentralbankentscheidungen durch «Sondersteuern».
Die Befürworter einer Instrumentalisierung der Finanzbranche zu politischen Zwecken übersehen dabei leider nur allzu oft, dass ihr Vorgehen paradoxerweise der Idee eines eigenständigen (im Sinne eines aus sich heraus soliden und krisenresistenten) Finanzsektors gerade entgegenwirkt. Jede Regulierung verursacht Kosten – besonders hohe allerdings dann, wenn die Regulierung mit der Abdeckung von Marktrisiken wenig zu tun hat, sondern stattdessen allgemeine politische Ziele erreichen soll.
Was mir in der öffentlichen Debatte zu allen oben genannten Themen oft fehlt, ist die starke Stimme der Branche. Anfangs vielleicht noch zu Recht aber mittlerweile zu lange ist der Finanzsektor zu wichtigen gesellschaftlichen Themen verstummt, die Meinung seiner Entscheider oft nicht wahrnehmbar. Zu schnell akzeptiert man die «Lehman-Keule», mit der das Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter und Hausspitzen, das es immer gab und geben wird, bei allen möglichen Themen als stellvertretend für den gesamten Sektor hingenommen wird. Der Wertschätzung der Branche, deren Kollegen in ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl ehrlich und hart arbeiten, erweist man so keinen Dienst.
Ich würde mir daher für 2023 wünschen, dass nicht nur der staatliche Souverän, sondern vielleicht auch die Finanzbranche ihre Stimme zu vielen Themen wiederfindet. Der Gesellschaft täte es gut. Um es mit der Vergangenheit zu sagen – die Medicis, Fuggers und Rothschilds haben zwar einige umstrittene militärische (und noch viel mehr nicht-militärische) Abenteuer finanziert, mit ihrem Rat aber eben auch viele gekrönte Häupter von allerlei Unfug abgehalten. Vielleicht findet der nach mehr gesellschaftlicher Nachhaltigkeit strebende Finanzsektor in diesen turbulenten Zeiten ja auch in einer solchen beratenden Funktion eine Rolle. Zu wünschen wäre es unserem Europa im heraufziehenden 2023.
Ihnen alles Gute im Neuen Jahr,
Es grüßt Ihr Thomas Wulf aus Brüssel