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Kluft zwischen Realwirtschaft und Finanzmärkten

22.06.2020 5 Min.
  • Fadi Barakat, Leiter Abteilung Märkte und Produkte

Es scheint gegen jede Vernunft zu sein, in Finanzanlagen zu investieren, während die Arbeitslosenraten weltweit steigen. Dennoch überschritt der S&P 500 zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels die 3000er-Marke. Wir fragen uns, ob das gegenwärtige Niveau gerechtfertigt ist, ob es so weitergehen wird und wie genau wir hierhergekommen sind.

Bei der jüngsten Marktkorrektur wurde keine Anlageklasse verschont. Die Welt kam zu einem «plötzlichen Stillstand». Ein Begriff, der den abrupten Rückgang der Kapitalströme in die Wirtschaft eines Landes beschreibt, der oft mit einer wirtschaftlichen Rezession und mit Marktkorrekturen einhergeht.

Keynes und Friedman arbeiten zusammen

Die Regierungen in den Industrieländern haben schnell reagiert: Es wurden mehrere Hilfsprogramme im Zusammenhang mit Corona aufgelegt, um die finanziellen Auswirkungen der Krise aufzufangen. In den USA trägt das von Präsident Trump am 27. März eingeführte wirtschaftliche Hilfspaket von über 2 Billionen Dollar dazu bei, das amerikanische Volk vor den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 zu schützen. In ähnlicher Weise haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs darauf geeinigt, Arbeitsplätze, Unternehmen und die Wirtschaft auf EU-Ebene zu unterstützen: Sie haben am 23. April ein 540 Milliarden Euro umfassendes Paket von drei Sicherheitsnetzen für Arbeitnehmer, Unternehmen und Mitgliedstaaten gebilligt.

Parallel dazu stellten die Zentralbanken über einen Zeitraum von sechs Wochen Liquidität in ausserordentlichem Mass bereit, indem sie Staatsanleihen, Unternehmensschulden, MBS und ETFs aufkauften.

Angesichts der aussergewöhnlichen Unterstützung durch die Geld- und Fiskalpolitik ist es keine Überraschung, dass die Märkte auf das derzeitige Niveau zurückkehren. Oder etwa doch nicht?

Märkte sind zukunftsorientiert

Wirtschaft und die Börsen sind miteinander verbunden, bewegen sich aber nicht im Gleichschritt. Die Märkte passen sich ständig in Erwartung wirtschaftlicher Veränderungen an, während Analysten und Strategen Finanz- und Wirtschaftsprognosen verwenden, um Trends zu projizieren und künftige Vermögensbewertungen abzuschätzen. Dennoch gibt es schwarze Schwäne. Und die Märkte crashen sehr schnell, wie es Anfang März der Fall war.

Hat der Markt diesmal Recht? Ist es vorbei? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns die Triebkräfte hinter der jüngsten Bewegung ansehen. In erster Linie geben uns die beispiellosen Käufe von Finanzanlagen durch die Zentralbanken einen ersten Anhaltspunkt. Durch die Senkung der kurzfristigen Zinssätze auf Null und den Kauf der langen Laufzeiten bewegte sich die Renditekurve stark nach unten. Die Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen fielen auf Rekordtiefs. Wenn die «risikofreien» Renditen so niedrig sind, sinkt die Risikoprämie für Aktien, was zu vermehrten Aktienkäufen führt in der Hoffnung, langfristig höhere Renditen zu erzielen.

Zweitens: Die Corona-Krise wird nicht ewig dauern. Es wurde eine Strategie zur Wiedereröffnung der Volkswirtschaften festgelegt. Als sich die Zunahme der Neuansteckungen verlangsamte, machten sich die Unternehmen bereit, um wieder normal zu funktionieren. Wir werden wahrscheinlich eine neue Normalität erleben, bei der Händeschütteln und überfüllte Flugzeuge der Vergangenheit angehören werden. Aber die Menschen haben sich in den schwierigsten Zeiten angepasst und weiterentwickelt. Dies ist keine Ausnahme. Mit der Zeit wird sich die Behandlung des Virus drastisch verbessern, so dass die Menschen eher geneigt sein werden, wieder ihr gewohntes Leben zu führen.

Schliesslich haben die Regierungen die Auswirkungen von Arbeitsplatzverlusten, vorübergehenden Entlassungen und Betriebsschliessungen weitgehend aufgefangen. Während die Schwachen untergingen und die Starken überlebten, verbesserte sich die Sichtbarkeit und die Märkte reagierten. Es ist wichtig zu erwähnen, dass eine grosse Zahl von Entlassungen vorübergehender Natur ist und damit die Arbeitslosenzahlen in die Höhe treibt, so dass wir bei der Analyse von Daten aus der Vergangenheit vorsichtig sein müssen.

Angemessene Risikobereitschaft ist der Schlüssel

Wie wird der Marktpreis festgelegt? Wenn wir den breitesten Bewertungsmassstab verwenden, liegt das geschätzte KGV des S&P 500 zum Jahresende 2020 bei 25,00 und für 2021 bei 19,50. Dies sagt uns, dass die gegenwärtigen Niveaus in der Tat hoch erscheinen mögen. Die Zukunft entspricht jedoch eher den langfristigen Durchschnittswerten. Für die europäischen Märkte sind die Bewertungen aufgrund ihrer geringeren Wachstumsaussichten und Margen im Allgemeinen weniger günstig. Das geschätzte KGV des Eurostoxx 50 für das Jahr 2020 liegt bei 20,00 und wird für 2021 voraussichtlich bei 15,3 liegen.

Die Kennzahlen für beide Indizes deuten darauf hin, dass der Optimismus zurückkehren wird. Ob dies gerechtfertigt ist oder nicht, wird die Zeit zeigen. Was wir im Moment wissen, ist, dass es wenig Raum für negative Überraschungen gibt und die meisten Aufwärtseffekte wahrscheinlich eingepreist sind. Es wird einige Schwierigkeiten auf dem Weg zur Erholung geben und der Markt wird sich nicht geradlinig weiterentwickeln. Eine etwas höhere Volatilität wird auf absehbare Zeit bestehen bleiben – oder zumindest bis eine langfristige Lösung für die Krankheit gefunden ist. In dem Masse, wie die grossen Volkswirtschaften der Welt wieder an die Arbeit gehen und Schulen und Unternehmen wieder geöffnet werden, werden wir an Zuversicht gewinnen, im Sinne unserer Philosophie des langfristigen Wachstums investiert zu bleiben.

Nach unserer Einschätzung wird die eigentliche Bewährungsprobe das Ergebnis des nächsten Quartals und die künftigen Prognosen sein.

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