Künstliche Intelligenz, reale Risiken
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Martin Raab
Investment-Stratege
Hype und Huldigung der KI haben Investoren weltweit beflügelt. Gleichzeitig drohen die Gefahren in Vergessenheit zu geraten. Das Spiel mit dem Feuer hat begonnen.
Es gibt derzeit keine hippere Branche als die Künstliche Intelligenz, im Fachjargon besser bekannt als AI – Artificial Intelligence. Im Jahr 2023 wurden rund USD 43 Milliarden allein in AI-Start-ups investiert. Das sind zwar 10% weniger als im Jahr 2022, aber deutlich mehr als der Gesamtdurchschnitt aller Frühphasenfinanzierungen im Jahr 2023. Die grössten Investoren im Bereich KI sind derzeit Google, KB Securities, Lightspeed Ventures, Softbank und indirekt auch das Pentagon.
Der grösste Appetit der Risikokapitalgeber richtete sich auf die generative KI. Generative KI ist ein Sammelbegriff für Systeme, die auf professionelle und kreative Weise alle Arten von Ergebnissen erzeugen können: Fotos, Videos, Audio, Text und sogar Computercodes. Menschliche Fähigkeiten sollen erreicht oder sogar übertroffen werden. So zumindest die Hochglanzvisionen. Ganz zu schweigen von den überzogenen Preisvorstellungen mancher KI-Händler.
Breite Lieferkette
Um diese beeindruckenden Ergebnisse zu erzielen, sind enorme Innovationen und Investitionen in die Hardware erforderlich. Im Bereich der kotierten Unternehmen sind Kursraketen wie Nvidia (+350%, 1 Jahr) und ASML (+144%, 1 Jahr) Paradebeispiele für den Hype um die Wertschöpfungskette rund um die Künstliche Intelligenz. Ironischerweise genügt in den Investoren-Calls, die heute von KI-Systemen in Echtzeit verfasst werden, eine Aussage über KI als Wachstumstreiber und schon steigt nach Veröffentlichung der Call-Skripte jede noch so gewöhnliche Aktie um 5% oder mehr – dank der Magie der KI.
Keine Geisterhände
KI ist keineswegs neu. Bereits 1956 legten visionäre Informatiker am Dartmouth College in New Hampshire die Grundlagen. In jüngster Zeit wurde sie immer weiter verfeinert. Die Vorteile, wenn Computersysteme repetitive Tätigkeiten übernehmen – statt mässig ausgebildete Menschen – sind nicht von der Hand zu weisen. Zur Wahrheit gehört aber auch: KI funktioniert nicht wie von Geisterhand, sondern muss von Hunderttausenden IT-Mitarbeitenden zwischen Kalifornien, Krakau und Kalkutta mühsam programmiert werden. Allein geht nichts, auch nicht mit KI. Dass über Nacht ganze Bücher aus dem Nichts auftauchen oder sich das Auto selbstständig macht und seinen betrunkenen Besitzer zielsicher nach Hause fährt, ist noch Fiktion – zum Glück.
Je mehr Zeit vergeht, desto offensichtlicher werden zudem die Grenzen. Diese sind unchic und werden deshalb von Unternehmensberatern und KI-Unternehmern geflissentlich verschwiegen. So liefert KI zwar mittlerweile erstklassige Inhalte bei einfachen Simulationen von Textvervollständigung oder «Mal mir ein Bild mit dem Matterhorn», aber sobald es komplex wird und strategische, intuitive Elemente gefragt sind, geht der KI schnell die Puste aus. Das ist kein Manko, sondern bisher ein wichtiges Stoppschild. Menschlichkeit ist nichts Schlechtes, im Gegenteil. Die totale Automatisierung fast aller Tätigkeiten durch Computersysteme kippt schnell in eine Art KI-Faschismus: Nur ein zentrales Führungssystem entscheidet über richtig und falsch, Individualität in Lösungswegen und Menschlichkeit gelten als obskur und entartet.
Gigantische Risiken
Was heute als Chatbot bei Versicherungen oder Telekommunikationsunternehmen schnell nervt, wird in Zukunft zum neuen Standard für Kundenanfragen aller Art? Die eigene Stimme wird in Zukunft nicht mehr als Garant für eine einwandfreie Identifikation bei Banken oder Behörden gelten, weil sie per KI gefälscht werden kann? Nachrichten lassen sich schon heute nicht mehr zweifelsfrei von Fake News und seriösem Journalismus unterscheiden – auch dank des Missbrauchs von KI. Und Social-Media-Kanäle können nicht mehr wirklich zwischen Robo-Usern und echten Menschen unterscheiden, geschweige denn zwischen echten Bildern in Posts und künstlichen Photoshop-Fakes. Die gigantische Liste an KI-Risiken wird täglich länger. Für Investoren ergibt sich daraus eine klare Handlungsstrategie: Investiere in Unternehmen, die KI-Risiken aktiv überwachen, minimieren oder gar eliminieren. Und für all jene Unternehmen, die sich im KI-Hype noch immer drastisch überbewertet sonnen, gilt: Long Puts können ein ideales Instrument für risikobewusste Gewinner sein – ganz real.
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