Mut zur Lücke – Gaps machen den Unterschied!
-
Jörg Scherer
Leiter Technische Analyse
HSBC Deutschland
Lücken existieren in verschiedenen Formen. Es gibt die guten Lücken,
wie etwa die Parklücke, oder die schlechten Lücken, wie etwa die Lücke
im Lebenslauf. Zweifelsfrei positiv sind allerdings Lücken an der Börse,
nämlich im Kursverlauf.
Die im Fachjargon als «Gaps» bezeichneten Kurslücken entstehen in ihrer einfachsten Form, wenn der Eröffnungskurs an einem Handelstag jenseits des Schlusskurses vom Vorhandelstag liegt. Wesentlich imposanter sind jedoch die Kurslücken, die jenseits des Hochs oder des Tiefs des Vorhandelstages entstehen.
Wir haben die Gaps des DAX® seit Beginn des Jahrtausends genauer untersucht und einige erstaunliche Dinge herausgefunden. Dazu haben wir zwei Strategien definiert und diese dem DAX® gegenübergestellt. In Strategie 1 eröffnen wir unsere Long-Position immer zum DAX®-Schlusskurs eines Handelstages und lösen sie zum DAX®-Eröffnungskurs des folgenden Handelstages wieder auf. Diese Vorgehensweise bildet quasi den «overnight»-DAX® ab. In Strategie 2 eröffnen wir unsere Long-Position stets zum Eröffnungskurs eines Handelstages und schliessen sie wieder zum Schlusskurs desselben Handelstages. Strategie 1 bezeichnen wir als «Gap-DAX®», während wir Strategie 2 unter der Bezeichnung «Intraday-DAX®» führen.
Mind the gap … nicht nur als Tourist in London
Transaktionskosten wurden bei unserem Back-test nicht berücksichtigt. Die unten aufgeführte Tabelle zeigt seit 2000 eine deutliche Outperformance des Gap-DAX® gegenüber dem DAX® und der Intraday-DAX®-Strategie.
Für den eigentlichen Knalleffekt sorgt aber ein anderer Aspekt: Zum Jahrtausendwechsel notierten die deutschen Standardwerte bei 6’958 Punkten. Wenn Anlegerinnen und Anleger seit Beginn des Jahrtausends jeden Handelstag nur «Intraday» von der Eröffnung bis zum Schlusskurs in den DAX® investiert hätten, dann hätten Sie – über die letzten fast 25 Jahre – einen Verlust von 3’475 Punkten zu beklagen. Dadurch fällt der «Intraday-DAX®» im Vergleich zum Startwert um 50% – und das trotz des Bullenmarktes der letzten zweieinhalb Dekaden. Dagegen beträgt der aggregierte «Übernacht-Gewinn» 14’284 Punkte – mehr als der eigentliche DAX® seit 2000 zulegen konnte. Zugespitzt lässt sich sagen, dass die Performance beim DAX® in diesem Jahrtausend aus den «Übernacht-Kurslücken» stammt. Dies spiegelt sich auch in der höchsten Trefferquote der drei Strategien wider. So ist die Gap-Strategie in 54.81% aller Fälle erfolgreich, während der DAX® selbst auf eine Trefferquote von 53.08% kommt. Am schwächsten fällt die Kennziffer mit 52.38% bei der Intraday-Variante aus.
Stabilität in schwierigen Marktphasen
Besonders hervorheben möchten wir an dieser Stelle noch eine weitere Eigenschaft des Gap-DAX®: die Robustheit in Bärenmärkten. So sehen wir insbesondere während der Dotcom-Krise einen stabilen Verlauf der Strategie. Auch andere Drawdowns wie etwa während der Finanzkrise von 2008 oder der Corona-Krise von 2020 fielen nicht so gravierend ins Gewicht wie beim DAX®. Schliesslich hat sich die Gap-Strategie nach dem Covid19-Tief vom März 2020 sehr schnell erholt und sogar neue Bestmarken erreicht, während der DAX® seinerzeit für das Erreichen eines neuen Allzeithochs deutlich mehr Zeit benötigte. Last but not least, bewies die Herangehensweise während des 2022er-Rückschlags eine bemerkenswerte Resilienz. Per Saldo sehen wir also über verschiedene Zeiträume hinweg eine systematische Outperformance der Gap-Strategie. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die grossen Kursgewinne aus den Jahren 2007 bis 2020 stammen. Seither sieht sich auch die «overnight»-Strategie vermehrt mit Konsolidierungsphasen konfrontiert. Charttechnisch schlägt sich diese Entwicklung in der Etablierung einer Tradingrange nieder, wohingegen der DAX® weitere Rekordhochs etablieren konnte. Gerade die jüngere Vergangenheit sorgt also für einen mahnenden Zeigefinger: Kein Handelssystem funktioniert immer und in allen Marktphasen.
Fazit
Dennoch zeigt unsere Auswertung, dass die Gaps durchaus den Unterschied ausmachen können. Für den grössten Aha-Effekt so rgt sicherlich, dass in den letzten 25 Jahren mit einem Intraday-Engagement am deutschen Aktienmarkt kein Staat zu machen war. Vielmehr sind die Kurslücken in diesem Jahrtausend das «Salz in der (Performance-)Suppe». Unter Risikogesichtspunkte stellen die geringere Volatilität sowie die Krisenresistenz der vorgestellten Gap-Strategie wichtige Nebeneffekte dar. Gerade wenn mehrheitlich «à la long» ausgerichtete Aktienportfolien unter Druck geraten, kann die «overnight»-Herangehensweise für ein Sicherheitsnetz sorgen. Unter dem Strich liefert unsere Auswertung (hoffentlich) spannende Erkenntnisse, welche Investorinnen und Investoren in eigene Handelsstrategien einfliessen lassen können. Der konsequente Mut zur Lücke sollte sich auch in Zukunft auszahlen.
__
Foto von AXP Photography auf Unsplash