Onlinehändler greifen Nachhaltigkeitsthemen auf
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Dijana Lind, ESG Analystin
Amazon und andere Unternehmen stehen vor Herausforderungen: Mit dem Siegeszug des Onlinehandels nehmen die Wirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zu. Die Lieferung direkt zum Kunden ist aber per se kein umweltschädliches Vertriebsmodell. Transport und Verpackungen sind wichtigste Stellschrauben für mehr Nachhaltigkeit.
„Relentless“, auf Deutsch „erbarmungslos“ oder „unaufhaltsam“: Ursprünglich soll Jeff Bezos diesen Namen in Erwägung gezogen haben, als er 1994 in einer Garage bei Seattle einen Online-Buchladen eröffnete. Er entschied sich letztlich für „Amazon“, das heute wie kaum ein anderes Unternehmen für den in der Tat unaufhaltsamen Siegeszug des Onlinehandels steht. In den vergangenen Jahren ist dieser stetig gewachsen und erzielt mittlerweile einen Anteil von fast 20 Prozent der gesamten Umsätze des Einzelhandels. 2019 verkauften Onlinehändler weltweit Waren im Wert von 26,7 Billionen US-Dollar. Die Corona-Pandemie hat den Boom weiter angekurbelt, in den USA legte der Umsatz im Jahr 2020 um 32 Prozent zu. Das hat Folgen, zum Beispiel für den Transport: UPS beförderte weltweit im Jahr 2012 pro Tag 16,3 Millionen Pakete, im Jahr 2020 waren es bereits 24,7 Millionen. Das vorliegende Papier analysiert die wichtigsten Nachhaltigkeitsaspekte des E-Commerce. Zudem diskutiert das Papier die Herausforderungen und Nachhaltigkeitsstrategien von Amazon als dem bekanntesten und in westlichen Industriestaaten grössten Vertreter der Branche.
Onlinehandel bei Nachhaltigkeitsaspekten gefordert
Mit dem steigenden Erfolg des Onlinehandels nehmen auch dessen Wirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zu. Einige dieser Aspekte sind spezifisch, wie etwa die Themen Versandverpackungen, Datenschutz oder Retouren. Andere treffen nicht nur auf den Onlinehandel zu, können sich aber in ihrer qualitativen Ausprägung vom stationären Handel differenzieren.
Dazu gehört der Transport der Waren, insbesondere auf der „letzten Meile“. Dieser Transport bis an die Haustüre ist für die CO2-Bilanz bedeutsamer, als der Transport von der Fabrik in das Warenlager. Denn vereinfacht gesagt ist der Emissionsanteil des einzelnen Produkts pro Tonnenkilometer bei einem grossen LKW deutlich kleiner als bei einem kleinen Lieferwagen. Wie bedeutend der Transport für die Gesamtmenge an emittiertem CO2 von der Herstellung bis zur Entsorgung ist, kann allerdings stark variieren (siehe Abbildung). Beispielsweise entsteht bei Büchern der Hauptteil des CO2 bei der Herstellung, während die Emissionen durch den Transport, die Nutzung oder die Entsorgung relativ gering sind. Anders ist das zum Beispiel bei Textilien, bei denen der Transport durch das Volumen der Waren und die spezielle Verpackung bedeutsamer ist.
Positiv wiederum wirkt beim Onlinehandel die Bündelung der Einkäufe, auch von unterschiedlichen Produktkategorien: Kunden müssen nicht mehr einzeln zu verschiedenen Händlern fahren, sondern ein Transporter liefert die Waren entlang einer geplanten Route ab. Der Warentransport des Onlinehandels ist insofern mutmasslich effizienter in Hinblick auf Emissionen. Wie hoch diese insgesamt sind, ist schwer zu beziffern. Denn weniger als ein Drittel der Unternehmen machen überhaupt Angaben zu Emissionszahlen. Der Transport verursacht darüber hinaus weitere Umweltwirkungen: So steigt die Beanspruchung der Verkehrsinfrastruktur durch mehr Transporte, ausserdem entsteht zusätzlicher Feinstaub und Lärm, insbesondere in den Ballungszentren.
Minimale und maximale Anteile an CO2-Emissionen einzelner Phasen des Lebenszyklus
Quelle: Umweltbundesamt, Ökopol.
Ein spezifischer Aspekt des Onlinehandels sind die Transport- bzw. Versandverpackungen: Durch die Verpackungen entstehen zusätzliche Emissionen, nach Angaben des Bundesumweltamtes je nach Grösse und Material zwischen 20 und 1000 Gramm CO2-Äquivalenten. Wieviel Verpackungsmüll weltweit jährlich durch E-Commerce entsteht, ist schwer abzuschätzen. Nur etwa 16 Prozent der Onlineversandhändler veröffentlichen Zahlen zu Abfall und möglichem Recycling von Versandverpackungen. Klar ist: Die Menge des eingesammelten Verpackungsmülls insgesamt steigt. Bezogen auf Papier, Pappe und Karton waren es in Deutschland im Jahr 2019 über 3 Millionen Tonnen – im Jahr 2012 lag diese Menge noch bei rund 2,8 Millionen Tonnen. Der Online-Boom dürfte eine der Ursachen für diesen Anstieg sein – und im ersten Pandemiejahr 2020, in dem der Onlinehandel besonders stark zulegte, dürfte sich diese Entwicklung weiter beschleunigt haben. Im Vergleich zum Verkauf im stationären Handel entstehen die Versandverpackungen zwar zusätzlich. Allerdings weist der Onlinehandel demgegenüber effizientere Strukturen in der Lagerung auf. Dort entstehen im Vergleich weniger Verpackungen, weil die Stückzahl der Produkte höher ist.
Zusätzliche Verpackungen, Emissionen und Müll entstehen auch durch Retouren: Denn im Onlinehandel werden Retouren zum Teil vernichtet, was die Umweltorganisation Greenpeace Im Jahr 2019 erstmals am Beispiel von Amazon dokumentierte. Das Unternehmen erklärt, dass die Menge der entsorgten Produkte extrem klein sei. Und verschrottet würde meist nur aus hygienischen Gründen oder aufgrund von Beschädigungen. Konkrete Zahlen nennt Amazon nicht. Seit 2020 gilt in Deutschland mit der Obhutspflicht eine gesetzliche Grundlage, die die Vernichtung neuwertiger Waren zurückdrängen soll. Allerdings wird das Gesetz mangels notwendiger Verordnungen bislang nicht umgesetzt. Die Vernichtung von zurückgegebener Ware ist auch im stationären Handel ein bekanntes Phänomen.
Bei Onlinekäufen fallen Daten an, von demographischen Informationen bis hin zu individuellen Präferenzen. Mit diesem Kundenprofil kann ein Onlinehändler bei neuen Bestellungen Vorschläge oder alternative Produkte anbieten, um das Produktangebot besser an der Kundennachfrage auszurichten und so für mehr Planungssicherheit zu sorgen. Auf diese Weise könnte die Kundenzufriedenheit steigen und die Zahl der Retouren sinken – ein klarer Vorteil des Onlinehandels gegenüber dem stationären Handel. Die Sammlung, Speicherung und Nutzung von Daten gibt aber Anlass zu Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes. Zugleich sind Onlinehändler einem erhöhten Risiko von Cybersecurity-Vorfällen ausgesetzt. Die Unternehmen haben deshalb begonnen, ihre Datenschutzrichtlinien zu verstärken, auch als Reaktion auf die Allgemeine Datenschutzverordnung der Europäischen Union (GDPR) und den California Consumer Privacy Act (CCPA).
Im Jahr 2018 gab es Schätzungen zufolge in acht europäischen Ländern rund 1,1 Millionen Menschen, die direkt oder indirekt im Onlinehandel beschäftigt waren. Im Pandemiejahr 2020 ist diese Zahl weiter stark gewachsen. Allerdings gab es in der Vergangenheit häufig Berichte über unangemessen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen in der Branche. Die Unternehmen handeln bei diesem Thema wenig transparent: Weniger als 10 Prozent der Onlinehändler veröffentlichen Zahlen zu Arbeitsunfällen, Mitarbeiterfluktuation oder Massnahmen für die Gesundheit und den Schutz der Mitarbeiter.
Exkurs: Amazon
Amazon ist der zweitgrösste Onlinehändler der Welt und dominiert die westlichen Märkte. Deshalb steht Amazon besonders im Fokus, in der öffentlichen Diskussion ist dabei das Thema der Arbeitsbedingungen dominierend – andere Aspekte bleiben oft unterbelichtet. Ein Vorwurf ist, dass Amazon seine monopolartige Stellung nutzt, um erfolgreiche Produkte von Konkurrenten zu kopieren und unter der „Amazon Basics“-Produktlinie zu vertreiben. Ausserdem verfügt das Unternehmen über detaillierte Kundendaten – das gilt besonders für die USA, wo Amazon auch im Lebensmittelhandel stark ist, der in hohem Masse Aufschluss über das gesamte Kaufverhalten gibt. Die Grösse des Unternehmens und seine Angebotsstruktur haben zudem Folgen für die Umweltwirkungen: So erhöht die Vielfalt der angebotenen Produkte die Komplexität der Frage, wie die Müllmenge durch besondere effiziente Verpackungen reduziert werden könnte. Auf der anderen Seite kann Amazon Skaleneffekte nutzen und hat (anders als kleinere Onlinehändler) einen besseren Zugriff auf die gesamte Wertschöpfungskette. Es kann beispielsweise Druck auf Zulieferer ausüben und Abläufe optimieren. Amazon gehört zudem zu den Gründern der Initiative „The Climate Pledge“. Amazon plant bis 2040 seine CO2-Bilanz auf Null bringen, bis 2030 will das Unternehmen 100 Prozent erneuerbaren Strom verwenden und 50 Prozent seiner Warensendungen CO2-neutral gestalten. Allerdings ist bislang unklar, wie Amazon diese Strategie umsetzen will. Zudem handelt das Unternehmen wenig transparent, was Nachhaltigkeits-Kennzahlen betrifft. Es bleibt viel zu tun: 2020 ist Amazon kräftig gewachsen, die absoluten CO2-Emissionen stiegen gegenüber dem Vorjahr um 19 Prozent. Die CO2-Intensität1 sank im gleichen Zeitraum nur um 16 Prozent. Um das Ziel einer Netto-Null-CO2-Bilanz zu erreichen, muss Amazon seinen Kohlenstoff-Fussabdruck folglich schneller reduzieren als sein Wachstum.
Fazit
Insgesamt ist der Onlinehandel kein per se umweltschädliches Vertriebsmodell, steht aber vor Herausforderungen bei der Nachhaltigkeit. Unternehmen haben über Skalen- oder Bündelungseffekte die Chance, Prozesse effizienter und nachhaltiger zu machen. So werden die Umweltauswirkungen zum Beispiel durch die konkrete Ausgestaltung der Logistikprozesse beeinflusst. Als unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten wichtigste Stellschrauben erscheinen die Lieferung der Waren sowie die Versandverpackungen. Hier setzen Unternehmen wie Amazon an, um ihre Klimabilanz zu verbessern. Bezüglich der Umsetzung bleibt aber noch vieles offen.
Onlinehändler haben verstanden, dass sie Nachhaltigkeitsthemen aufgreifen müssen, um auch in Zukunft als wettbewerbsfähige Plattformen wahrgenommen zu werden, wenn Konsumenten immer stärker nachhaltiges Verhalten einfordern. Dazu gehören auch Aspekte des Datenschutzes und der Arbeitsbedingungen der Beschäftigen, die potentielle Risiken für die Reputation und damit auch den Geschäftserfolg von Onlinehändlern darstellen.
Zur Person
Dijana Lind, CFA, ist ESG-Analystin Capital Markets & Stewardship bei Union Investment. Nach ihrem Studium an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankurt, das sie mit einem Master of Science in Wirtschaftswissenschaften abschloss, war sie als Working Student für Sustainability und Engagement bei Union Investment tätig und absolvierte auch Praktika bei EY und PWC.