Zurück
payoff Interviews

Politikfehler sind wohl inzwischen das grösste Risiko

02.09.2021 6 Min.
  • Serge Nussbaumer, Chefredaktor

Herr Gattiker, am Sonntag, dem 26. September wird in Deutschland gewählt. Welcher Wahlausgang wäre für die künftige Börsenentwicklung am vorteilhaftesten?
In der Regel ist ein «weiter so» in westlichen Demokratien die berechenbarste und darum oft beste Alternative nach Wahlen. In Deutschland kann das für die Grosse Koalition kaum mehr gelten. Zu stark haben sich die Partner aneinander und an der Pandemie abgearbeitet. Von daher wäre hier eine stark im Zentrum verankerte Koalition mit klaren Mehrheiten wohl an der Börse der beliebteste Wahlausgang.

Welches Szenarium würde dem Aktienmarkt am wenigsten gefallen?
Extremszenarien mit einem sprunghaften Erstarken der Ränder des Parteienspektrums und einer schwierigen Koalitionsbildung oder gar Minderheitsregierungen würde die Erwartungsbildung an den Finanzmärkten erschweren. Das gilt nicht nur für die deutsche Politik sondern auch für das europäi- sche Ganze, in dem Deutschland seit jeher eine tragende Rolle spielt. Gerade in der Bewältigung der Pandemie für das angeschlagene Europa wäre eine geeinte deutsche (und pro-europäische) Regierung besonders wichtig.

Gemäss IWF soll das BIP in Deutschland im Jahr 2021 um 3.6% und im Jahr 2022 um 4.1% wachsen. Teilen Sie diesen Optimismus oder rechnet die Bank Bär mit anderen Eckdaten?
Wir haben +2.8% für 2021 und +4.9% für 2022 in den Büchern. Das deutet darauf hin, dass wir wohl dieses Jahr stärkere Bremsspuren durch die Einschränkungen im ersten Halbjahr 2021 einrechnen. Das fehlende Wachstum dürfte dann umso stärker 2022 nachgeholt werden. Insgesamt sieht das auf dem Papier natürlich stattlich aus. Dabei müssen wir uns immer vor Augen führen, dass Deutschland wohl erst kommenden Winter das Vorkrisenniveau in Sachen Wirtschaftsleistung erreicht. Also ist Vieles immer noch dem Aufholen geschuldet.

«Ein Ausbruch aus diesen langen Trends ist schon mal ein starkes Signal.»

Sie äusserten jüngst in einem Interview, dass Europa am Anfang einer Aktien-Hausse steckt. Was macht Sie so optimistisch und wie beurteilen Sie im Quervergleich die Chancen Deutschlands dessen Blue Chip Börsenbarometer, der DAX Kursindex, sein Allzeithoch vom März 2000 erst im Frühjahr dieses Jahres übertroffen hat?
Optimismus und Dax waren ja schon länger nicht mehr in einem Satz zu lesen. Die Latte der Erwartungen liegt unheimlich tief. Die Anleger hatten in Deutschland über 20 Jahre keinen Kapitalgewinn im Index zu verzeichnen. Ein Ausbruch aus diesen langen Trends ist schon mal ein starkes Signal. Mit einer Gewinnrendite von rund 6%, einer Dividendenrendite von rund 2.5% und negativen Anleihenzinsen sind die Eckdaten günstig für deutsche Aktien wie lange nicht mehr.

Wo orten Sie die grössten Risiken, die dem gegenwärtigen Goldlöckchen- Szenarium an der Börse ein Ende bereiten könnten?
Die Pandemierisiken werden nach und nach von Politikrisiken abgelöst. Politikfehler sind wohl inzwischen das grösste Risiko. Das betrifft kurzfristig ein verfrühtes Abbauen der Unterstützung und mittelfristig ein Überstimulieren der Wirtschaft mit billigem Geld und Staatsausgaben. Ein nachhaltiger Anstieg der Inflation wäre im zweiten Fall die ernste Folge. Zu Ehren der Politikmacher muss gesagt werden, dass die Fehler erst im Nachhinein feststellbar sein werden.

Der Leitindex DAX wird ab dem 20. September von 30 auf 40 Titel erweitert. Was für Auswirkungen auf die Branchenstruktur dürfte diese Anpassung haben?
Die Änderungen sind moderat. Wir sprechen hier von weniger als 10% der Gewichtung. Die Anteile von weniger konjunkturabhängigen und von wachstumsorientierten Sektoren steigen. Also etwas mehr vom Gesundheitswesen, Internet und Mode, aber immer noch ein sehr zyklischer Index.

Die deutsche Börse wird die Details am 3. September nach Börsenschluss bekanntgeben. Welche Kandidaten haben die grössten Chancen, in den
illustren Kreis des DAX aufgenommen zu werden?
Airbus, Zalando, Siemens Health, Symrise, HelloFresh, Porsche, Brenntag, Sartorius, Puma und Beiersdorf werden als aussichtsreiche Kandidaten genannt.

«Längerfristig glaube ich, dass sich die deutsche Schlüsselindustrie Automobilbau gerade neu erfindet.»

Matthias Born, Investmentchef des Bankhauses Berenberg, ist kein Fan der deutschen Autobranche, obwohl die Titel gemessen am Kurs-/Gewinnverhältnis 2021 günstig bewertet sind. Teilen Sie diese Ansicht?
Ja, aber vielleicht aus anderen Gründen. Wir haben in den letzten Monaten viele unserer zyklischen Engagements glattgestellt. Dazu gehören auch die Automobilbauer mit ihrem konjunkturnahen Geschäft. Die Aktien sind ja Anfang Jahr ab wie eine Rakete. Eine Pause ist da nichts als gesund. Längerfristig glaube ich, dass sich die deutsche Schlüsselindustrie Automobilbau gerade neu erfindet. Vielleicht ist das mit ein Treiber einer langfristig erfreulicheren Dax-Performance.

«Somit suchen Anleger Unternehmen, die stärker als die Gesamtwirtschaft wachsen.»

Welche Branchen bieten in Deutschland in den kommenden Monaten das grösste Potential?
Wir halten es da mit den weltweit aussichtsreichen Sektoren, dem Gesundheitswesen und der Technologie. Jetzt wo die Wirtschaft wieder auf Kurs ist, sind die grossen Bewegungen der Zykliker vorbei. Somit suchen Anleger Unternehmen, die stärker als die Gesamtwirtschaft wachsen. Und werden bei den genannten Wachstumssektoren fündig.

Welche deutsche Aktie ist ihr persönlicher Favorit?
Mein Favorit ist SAP – einer der wenigen europäischen Konzerne, die in der obers- ten Tech-Liga mitspielen können. Das Ge- schäftsmodell ist stabil und ertragsstark und im Cloud Business stehen die Zeichen auf Wachstum. Und die Aktie ist auch nicht abschreckend hoch bewertet im Vergleich zu den nordamerikanischen Peers.

Zum Abschluss Herr Gattiker, eine Frage zum Schweizer Franken. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung des Frankens gegenüber dem EURO aber auch gegenüber dem Dollar?
Die Zeichen deuten auf Frankenschwäche in den nächsten Monaten, auch wenn diese nicht sehr ausgeprägt sein dürfte. Zum Euro stecken wir im grossen Bild immer noch einer von der SNB betreuten Seitwärtsbewegung zwischen 1.05 und 1.20. Hier dürf- te sich der Franken bei anhaltender Aufhellung der Weltkonjunktur wieder etwas mehr in Richtung Mitte des Kanals bewegen, im Mindesten über 1.10. Gegenüber dem US Dollar ist das Bild ähnlich, technisch sieht es aber noch etwas stärker zu Gunsten des US Dollar aus. Ein schwächerer Franken in den kommenden Quartalen würde den Schweizer Unternehmen weiter Auftrieb geben.

Herzlichen Dank!

____

Christian Gattiker-Ericsson, CFA, CAIA, ist Chefstratege und globaler Leiter Research bei der Bank Julius Bär. Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege, Aktienanalyst und Ökonom bei verschiedenen Schweizer Banken, und bei einer unabhängigen Investor Relations Agentur als Consultant für börsenkotierte Unternehmen im In- und Ausland. Inhaltlich beschäftigt er sich insbesondere mit der Analyse von Einzelunternehmen, Aktienstrategie wie auch der Anlagepolitik über verschiedene Anlageklassen. Christian Gattiker hat seine Studien als lic. rer. pol in Volkswirtschaft und Politologie an der Universität Bern abgeschlossen.

Weitere News aus der Rubrik

Unsere Rubriken