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payoff Blockchain Report

DeFi: Der Wahnsinn oder bloss ein Wahn?

30.05.2022 6 Min.
  • Pascal Hügli
    Redaktor

Die Finanzbranche gilt gemeinhin als eine der trägsten Industrien schlechthin – nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei ihr um eine der reguliertesten Industrien überhaupt handelt.

Seit etwas mehr als einer Dekade jedoch ist Bewegung in die Finanzwelt gekommen. Ob Challenger-Banken, Fintechs, BigTech, Open-Banking-Bestrebungen oder geschlossene DLT-Vorhaben, sie alle versuchen der Finanzindustrie einen neuen Anstrich zu verpassen.

Stetig neue Akteure und Erscheinungen aus der Tech-Welt fordern die Finanzwelt heraus. Quelle: Pahueg (HWZ)

Die jüngste Innovationswelle, die derzeit in voller Wucht anrollt, geht mit dem Aufkommen öffentlicher Blockchains einher. Es handelt sich dabei um Decentralized Finance, kurz auch DeFi genannt. Diese neue Erscheinung hat sich in Rekordzeit zu einem der heiss diskutiertesten Themen rund um Kryptowährungen gemausert.

DeFi: Was ist das?

Bei DeFi handelt es sich um eine alternative Finanzinfrastruktur, die auf öffentlichen Blockchains aufbaut. Letztere bilden die Grundlage für eine vertrauensminimierte Ausführung dieser neuen Finanzgeschäfte und dient ebenso als Abwicklungs- und Streitbeilegungsebene derselben. Grundelemente einer Finanzwelt wie Handelsbörsen, Kreditmärkte, Derivathandelsplätze oder Vermögensverwaltungsmandate können demnach über die Blockchain abgebildet und abgewickelt werden.

Implementiert werden die DeFi-Finanzanwendungen als Protokolle, die als Smart Contracts auf eine öffentliche Blockchain geschrieben sind. Smart Contracts sind Programmiercodes und stellen eine Art Anleitung auf der Blockchain dar, mithilfe derer jegliche Art von Finanzlogik abgebildet werden kann. Auf diese Weise replizieren Smart Contracts herkömmliche Finanzdienstleistungen auf eine offene und transparente Weise. Dies deshalb, weil die zugrunde liegende öffentliche Blockchain für jedermann stets zugänglich und für jedermann jederzeit einsehbar ist.

Ansteuern lassen sich diese DeFi-Smart-Contract-Protokolle mittels Front-End-Webapplikationen, auch dApps genannt. Letzteres steht für dezentralisierte Applikationen. Obwohl DeFi-Protokolle über ihre Smart Contracts auf einer dezentralen Infrastruktur wie einer öffentlichen Blockchain laufen, sind es ihre Front-End-Benutzeroberflächen zum heutigen Zeitpunkt häufig noch nicht. Der Begriff einer dApp ist daher mit Vorsicht zu geniessen und es sollte daher treffender von einer normalen Webapplikation gesprochen werden.

DeFis zahlreiche technische Schichten, die allesamt aufeinander aufbauen. DeFi im Allgemeinen bezieht sich auf einen offenen, erlaubnisfreien und interoperablen Protokoll-Stack. Quelle: Pahueg (HWZ)

Das Wachstum von DeFi-Protokolle – gemessen im Wert (TVL), der in DeFi-Lösungen gehalten wird – ist denn auch äussert beeindruckend. Noch im Mai 2020 entsprach dieser USD 800 Millionen. Heute nur zwei Jahre später umfasst der DeFi-Markt über USD 200 Milliarden. Dieses spektakuläre Wachstum sowie die Entdeckung einiger wirklich innovativer Protokollansätze verweist darauf, dass DeFi dereinst in einem breiteren Kontext relevant werden könnte. Das Interesse von Finanzinstituten, Analysten, aber auch politischen Entscheidungsträgern und Regulatoren hat diese neue Welt immerhin bereits auf sich gezogen.

Für eine bessere Finanzwelt

Der Zufluss von Finanzmitteln und das Interesse an dieser neuen DeFi-Welt dürfte vor allem diesem Versprechen geschuldet sein: Zugriff und gleich lange Spiesse für alle, weniger Ineffizienz, höhere Transparenz sowie weniger hierarchisch geführte dafür aber stärker interoperable Strukturen und mehr Inklusion.

Die Effizienz ist beeindruckend und lässt sich am Beispiel einer dezentralen Börse veranschaulichen: Von nur ein paar Entwicklern aufgesetzt kann eine solche als selbstausführender Smart Contract auf einer Blockchain eigenständig funktionieren. Der Aufwand zur Etablierung und Führung ist im Vergleich zu einer traditionellen Börse minimal. Bei letzterer müssen die Handelspaare, die Finanzmittel sowie die Börsenteilnehmer sorgfältig geprüft werden. Auch werden Prozesse, die in der herkömmlichen Finanzwelt über unzählige Schaltstellen abgewickelt werden müssen, auf wenige Zwischenstellen verdichtet. Verwahrer, Treuhänder oder Clearing-Stellen können ganz wegfallen, da die Blockchain und die Smart Contracts diesen Teil übernehmen können. Das sorgt für die Eliminierung von Fixkosten und Mehraufwand bei gleichzeitiger Verringerung von Kredit- und Gegenparteirisken. Die Sofortabwicklung, welche die Blockchain zudem ermöglicht, macht Finanztransaktionen schneller und effizienter.

Als harmonierende Code-Bausteine können DeFi-Protokolle nahtlos miteinander interagieren. Wie Lego-Bausteine können einzelne DeFi-Smart-Contracts zusammengefügt werden, was sie nativ interoperable macht. Das schafft ein Plug-and-Play-Kundenerlebnis: Wer einen Token über eine dezentrale Börse kauft, kann diesen im gleichen Atemzug über einen dezentralen Kreditmarkt verleihen und den dadurch generierten derivativen Token, der die auf dem Kreditmarkt ausgeliehenen Mittel repräsentiert, als Liquidität einem dezentralen Liquiditätspool zur Verfügung stellen.

Auch soll die DeFi-Welt höhere Transparenz bringen. So stellt die Verfügbarkeit historischer und aktueller Daten eine enorme Verbesserung gegenüber dem traditionellen Finanzsystem dar, bei dem ein Grossteil der Informationen über eine grosse Anzahl von proprietären Datenbanken verstreut und nicht einheitlich verfügbar ist. DeFi liefert aufgrund des offenen Hauptbuches namens Blockchain zu jeder Zeit Echtzeitdaten.

Die fast grösste Hoffnung, die in die dezentrale Welt der Finanzen hineinprojiziert wird, ist jene eines breiteren Zugangs. Im Gegensatz zum traditionellen Finanzsystem, wo noch immer Milliarden von Menschen aufgrund fehlender Identifikationsmöglichkeiten, Wissen, Infrastruktur oder auch Status keinen oder nur schwer Zugang zu Finanzdienstleistungen haben, bietet DeFi aufgrund der Erlaubnisfreiheit öffentlicher Blockchains einen einfacheren Zugriff, der 365 Tage im Jahr offensteht. Ein Smartphone und eine Internetverbindung reichen aus, um viele der aktuellen DeFi-Protokolle nutzen zu können. Die Anreize, diese neue dezentrale Infrastruktur und deren Finanzapplikationen zu nutzen, ist in Ländern mit unterentwickelten Finanzmöglichkeiten gross. Die Welt der dezentralen Finanzen bietet hier die besten, weil gleichen Voraussetzungen für jedermann. Egal, ob es sich um eine Transaktion von CHF 15 oder von CHF 15‘000 handelt, die Transaktion kostet gleich viel. DeFi schafft so gleich lange Spiesse für Unbanked sowie Overbanked.

Eine Chance für Investoren?

Ob der vielen Chancen und guten Aussichten drängt sich der Schluss auf: DeFi müsste doch eine lukrative Anlagemöglichkeit für Investoren sein. Was auf den ersten Blick einleuchtet, muss nicht zwingend eintreffen. Denn obwohl DeFi-Protokolle dabei sind, immer mehr Wert zu halten und Volumen zu generieren, sind die verschiedenen Token der unterschiedlichen DeFi-Protokolle nicht notwendigerweise die Nutzniesser davon.

So könnten DeFi-Token kurzfristig im Zuge eines erneuten Hypes sicherlich davon profitieren, mittel- bis langfristig stellt sich allerdings die Frage, wo der Wert dieser Token zu verorten ist. Denn in vielen Fällen ist der Token für die Nutzung des entsprechenden DeFi-Protokolls nicht vonnöten, da die vorzüglichen Dienste des Protokolls auch ohne das Halten des Tokens in Anspruch genommen werden können.

Das ist dann etwas anders, wenn durch das DeFi-Protokoll generierte Netzwerkgebühren im eigenen Token à la Dividenden an Token-Halter ausbezahlt werden oder der Token Governance-Funktionen beinhaltet und Token-Inhabern so Stimmrechte am Protokoll erteilt. In diesen Fällen stellt sich jedoch verstärkt die Frage nach Regulierung, weshalb sich ein Investor trotz Anlagegrund einem regulatorischen Risiko aussetzt sieht.

Und letztlich ist ganz allgemein zu fragen, ob es sich in absehbarer Zeit nicht eher lohnen dürfte, Ether als zugrunde liegender Abwicklungsvermögenswert und nicht DeFi-Token zu halten. Immerhin steht Ethereum vor seinem Netzwerk-Update, wodurch die Emission neuer Ether verringert werden dürfte und dies in Kombination mit dem eingebauten Burn-Effekt bei diesem Vermögenswert zu einem noch stärkeren deflationären Effekt führen könnte.

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