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Schützt die Einhörner!

04.11.2024 6 Min.
  • Thomas Wulf

…oder wie Brüssel nervös nach Ideen sucht, um die EU fit für die multipolare Welt zu machen.

Knapp hat es dann im Juli doch noch einmal geklappt. Frau von der Leyen, mit Ach und Krach in den Kandidatensitz der Konservativen Volksparteiengruppe (EVP) gehievt, darf der EU Kommission ein zweites Mal für fünf Jahre vorstehen. Ob dies auch für alle 26 Anwärter auf die Kommissarsposten gilt, die sich in den kommenden Wochen durch die Anhörungen des Parlamentes quälen müssen, darf man bezweifeln. Sicher besetzt ist nur der Posten der Präsidentin selbst. Das Kollegium der Kommissare muss vom Parlament als solches, und nicht etwa Posten per Posten, bestätigt werden. Allein schon um ihre Macht zu demonstrieren, werden die Abgeordneten wie üblich einige der Aspiranten auf die höchsten Führungspositionen der EU durchfallen lassen. Dies passiert natürlich unbeschadet des Umstands, dass viele Parlamentarier, wie leider auch immer noch üblich, nicht unbedingt vor fachlicher Eignung für die von ihnen besetzten Ausschüsse strotzen. Es fragt sich deshalb bei manchen dieser Anhörungen, wer da eigentlich wen testet. 

Über welche Aspiranten sich dann der Daumen senkt, wird man sehen. Jemand, die sich allerdings die allerwenigsten Sorgen in dieser Hinsicht machen muss, ist die Anwärterin auf den Chefposten der Finanzmarktregulierung, Maria Albuquerque. Selbige Dame, hinter vorgehaltener Hand auch gerne als Margaret Thatcher Portugals bezeichnet, hat sich ihre Meriten als Finanzministerin in der schwierigsten Phase der Finanzkrise samt der von dieser ausgelösten Haushaltskonsolidierung verdient. Frau Albuquerque blickt daneben auch auf einige privatwirtschaftliche Karrierestationen zurück, die, anders als bei der scheidenden Amtsinhaberin Mairead McGuiness, einer ehemaligen Journalistin im Agrarbereich, auf ein offeneres Ohr zur Industrie hoffen lassen. 

Interessant sind neben den Anhörungen auch die sogenannten Mission Letters, vorab veröffentlichte «persönliche» Briefe, in denen die Kommissionspräsidentin das von ihr erwartete Leistungsspektrum der neuen Kandidaten skizziert oder, wie böse Zungen gerne behaupten, abschreckend ausmalt – schliesslich zirkulieren die Briefentwürfe oft schon, bevor die jeweilige nationale Regierung die Kandidaten ernennt. Wie dem auch sei, jedenfalls liest sich aus vielen dieser Mission Letters heraus, dass das die erste Amtzeit von der Leyens noch alles dominierende Streben nach Nachhaltigkeit (Stichwort «Green Deal») nunmehr aktuellen Zwängen zu weichen hat. Nachhaltigkeit, zumal in Umweltbelangen, ist dabei nicht verschwunden. Sie findet sich nur nicht mehr als Leitmotiv und ist in einer Art und Weise formuliert, die letztlich auf einen Ausgleich mit anderen, teilweise neuen, teilweise schon seit längerem und zumindest verbal als wichtig herausgestellten Themen hinausläuft. Hierzu zählen u.a. die Absicherung der Wertschöpfungsketten der EU-Industrie (so soll eine neue «EU Raw Materials Platform» eingerichtet werden, um «Ankäufe zu koordinieren»). Daneben geht es um die agressivere Vertretung europäischer Interessen im Welthandel, da die EU-Kommission das alleinige Mandat hat, für den Binnenmarkt Einfuhrzölle, Kontigentbeschränkungen u.ä. vorzuschlagen. Ein weiterer Punkt ist die neu hinzugekommene Abschottung des Binnenmarktes vor bestimmten M&A-Aktivitäten, die ein gezieltes Herauskaufen von Know-How mit dem Ziel, (künftige) Konkurrenten auszuschalten, als vermutete Motivation haben (sog. «killer acquisitions»). Regelrecht Angst macht dann noch das der Kommissarskandidatin «Startups, Research & Innovation» (Ekaterina Zaharieva aus Bulgarien) aufgetragene Anliegen, eine Liste von «Trusted Investors» für die EU zusammenzustellen. Was heisst das nun wieder? Wer auf der Liste ist, darf in interessante EU-Gründungen investieren, der Rest nicht?

Man spürt beim Lesen unweigerlich den neuen Wind – es ist der starke Staat, der sich nach Wunsch der Autorin zurückmelden soll. Allein ist Ursula von der Leyen damit sicher nicht. Auch viele nationale Parteien und Regierungschefs haben aus völlig unterschiedlichen Motiven ein Interesse daran, ihr Land im Kontext der multipolaren Weltordnung neu zu positionieren. Allerdings schwebt ihnen oft weniger eine Stärkung der europäischen Komponente als vielmehr eine Allianzenbildung parallel zur EU oder sogar ein (oh Schreck) völliger Alleingang vor. Eine Kostprobe lieferte das kürzliche Treffen Keir Starmers mit Olaf Scholz, auf dem eine Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten beschlossen wurde. Dafür wird es in Zukunft einen eigenen Kommisar geben (Kandidat Andreus Kubilius aus Litauen), das war den beiden Grossmächten aber offenbar egal. Die Kommissionspräsidentin, als transparenzabgeneigte Taktikerin berüchtigt, versucht natürlich alles, solche Trends irgendwie vorab einzufangen, wozu auch ihre forschen Mission Letters zählen. Warum sie es dann aber als sachdienlich erachtete, Altkommissar Thierry Breton, einen der durchsetzungsstärksten Befürworter europäischer Eigenständigkeit im Machtgezerre zwischen China und den USA eiskalt bei der Kandidatenauswahl abzusägen, bleibt ihr Geheimnis. Neuer französischer Aspirant, der sogar für den wichtigsten der sechs koordinierenden Vizepräsidentenposten der Kommission vorgesehen ist, wird nun wohl das Politleichtgewicht Stéphane Séjourné, vormals Abgeordneter der Liberalen von Macrons Gnaden im EU-Parlament. 

Ohnehin weht durch das ganze Thema der stark lenkenden staatlichen Hand der Geist  Colberts. Gemeint ist damit nicht der bei US-Demokraten beliebte Showmaster von CBS sondern der Finanzminister Jean-Baptiste Colbert am Hofe des vormaligen französischen Königs Louis XIV. im 17. Jahrhundert. Monsieur Colbert hatte die starke Rolle des Staates im Wirtschaftsgeschehen mit Unternehmensgründungen, massiven Subventionen für die koloniale Expansion und Einfuhrbeschränkungen nichtfranzösischer Produkte dauerhaft verankert. Seine Geisteshaltung (bekannt als «colbertisme») zieht sich bis heute durch fast alle Industriesektoren westlich des Rheins. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass französische Abgeordnete als erste Beifall klatschten, als in der Debatte um das Mandat der kommenden Wettbewerbskommissarin (Teresa Ribera aus Spanien) lautstark der Schutz des «Einhorns», also die Abschottung von führenden Technologieunternehmen mit Sitz in der Europäischen Union und einer Marktkapitalisierung von über 1 Milliarde Euro, gegenüber feindlichen Übernahmen als vermeintlich dringliches Anliegen öffentlich proklamiert wurde. Die Kandidaten der vier Kommissarsposten für Wettbewerb, Research & Innovation, Handel und der neue Verteidigungskommissar werden zu dem Thema wohl viele mit Verve vorgebrachte Fragen beantworten müssen. 

Vielleicht aber sind sie als Brüssler Anfänger noch so mutig, in ihre Antworten mit einfliessen zu lassen, dass von Konkurrenz abgeschottete Unternehmen von jeher einen Hang zu Unprofitabilität haben, dass es nahezu unvorhersagbar ist, wann ein Investoreneinstieg nur Know-How abgreifen soll und dass es der Attraktivität des beneideten amerikanischen Kapitalmarkts herzlich wenig schadet, wenn Startups aus Europa noch mehr in ihrer unternehmerischen Expansion, zu der nunmal auch das Einwerben ausländischer Investoren als Mitaktionäre gehört, gegängelt werden. Viele prominente Vertreter der Tierwelt, Einhörner aus Bildgründen dazugezählt, sind schliesslich wegen erwiesener Anpassungsunfähigkeit an Futterlosigkeit zugrunde gegangen oder eben dann letzen Endes doch … ausgewandert.  

Es grüsst weiterhin unvermindert optimistisch aus Brüssel

Ihr Thomas Wulf   

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Der Artikel spiegelt allein die persönlichen Ansichten des Autors.

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