«Wir wollen den Paradigmenwechsel hin zu einem Nachfragermarkt forcieren.»
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Martin Raab
Dr. Wolfgang Gerhardt, Leiter Financial Products Deutschland bei der Bank Vontobel über die neue Fintech Lösung mein-zertifikat.de, erste Resonanz, Auswahl vs. Schnelligkeit und warum Anlageberater das neue Angebot als Chance anstatt Bedrohung sehen sollten.
Herr Gerhardt, Ende August geht das Angebot mein-zertifikat.de an den Start. Was verbirgt sich dahinter?
Mein-zertifikat.de ist eine Fintech-Lösung und weltweit die erste Plattform, mit der Banken, Sparkassen, externe Vermögensverwalter und gleichzeitig auch aktive Privatanleger strukturierte Produkte kreieren, bestellen und investieren können. Sie können unterschiedliche Produktalternativen in Echtzeit rechnen lassen, einen Wunsch auf Emission äussern und 30 Minuten nach der Bestätigung bereits das neue strukturierte Produkt an den Börsen in Frankfurt und Stuttgart handeln. Offen ist die Plattform gegenwärtig für Nutzer aus Deutschland.
Welche strukturierten Produkte umfasst das Angebot?
Wir starten mit den beliebtesten Renditeoptimierungsprodukten in Deutschland, mit Reverse Convertibles, Barrier Reverse Convertibles, Discount-Zertifikaten und Bonus-Cap-Zertifikaten. Die Eingabemaske ist einfach konzipiert, so dass ein Nutzer nur Basiswert, Basispreis, Barriere und Laufzeit eingeben muss, um eine Produktanfrage starten zu können.
«Die Nutzer wollen Vielfalt und Auswahl; die Schnelligkeit kommt im Zweifel im zweiten Schritt.»
Wie kam es zur Idee?
Deutschland ist bei Zertifikaten «Börsenland». 63% der europaweiten Börsenumsätze in Anlagezertifikaten entfallen auf Deutschland – 27% übrigens auf die Schweiz. In Deutschland erwerben nicht bloss selbst entscheidende Anleger, sondern auch viele Banken, Sparkassen und Vermögensverwalter für ihre Privatkunden Anlagezertifikate, die bereits an der Börse kotiert sind. So war es ein natürlicher Schritt, Innovation und Tradition zu kombinieren: Nachdem die Emission erfolgt ist, kann ein Berater oder ein Privatanleger «sein» Zertifikat auf dem für ihn seit Jahrzehnten gewohnten Weg über seine Bank bzw. einen Onlinebroker erwerben. Er muss kein neues Konto oder Depot eröffnen und auch ansonsten nur wenige Formalitäten erfüllen, um den Service nutzen zu können.
Das Angebot startet effektiv Ende August. Wie viele Registrierungen haben Sie bereits?
Die Resonanz der ersten Tage ist bereits vielversprechend. Und wir sind sicher, dass das Interesse rund um den Start noch stark zunehmen wird, nicht zuletzt auch durch unsere spezielle Marketingmassnahme «Aktion Freunde empfehlen», die wir mit attraktiven Preisen verbunden haben.
Welche Emittenten werden zu Beginn mit dabei sein?
Zunächst starten wir mit Vontobel. Wir befinden uns in konkreten Gesprächen mit anderen Häusern und gehen davon aus, dass wir in wenigen Wochen bereits den ersten Emittenten ankündigen können.
…und für alle Emittenten gilt die sportliche 30-Minuten-Dauer zwischen Strukturierung durch den Kunden auf mein-zertifikat.de und der tatsächlichen Handelsmöglichkeit des individuellen Produkts an der Börse?
Jetzt entscheiden und möglichst schnell handeln können – damit tritt mein-zertifikat.de in den Wettbewerb mit dem klassischen Primärmarktgeschäft. Unser Ziel ist es, dass alle Emittenten den 30-Minuten-Sprint absolvieren können. Sollte aber ein Emittent nicht in der Lage sein, die taggleiche Börsenzulassung sofort umzusetzen, so werden wir ihm dennoch gerne zunächst den Anschluss ermöglichen. Die Nutzer wollen Vielfalt und Auswahl; die Schnelligkeit kommt im Zweifel im zweiten Schritt. In diesem Fall könnte der Anleger das Produkt erst am folgenden Tag erwerben oder seine Bank müsste direkt mit dem Emittenten telefonisch handeln.
…erfüllt nicht ihre Plattform deritrade bereits das Massschneidern von Strukturierten Produkten?
Mein-zertifikat.de basiert auf der in der Schweiz entwickelten und bewährten deritrade Technologie. Seit der Einführung von deritrade für den internen Gebrauch im Jahr 2007, der Etablierung bei Banken und Vermögensverwaltern in 2008 und der Öffnung zu einer Multi-Issuer-Plattform in 2013 verfügt Vontobel nunmehr über fast 10 Jahre operative Erfahrung. So ist mein-zertifikat.de ein konsequenter Schritt nach Deutschland, um das Geschäft mit strukturierten Produkten zu verbreitern. Deritrade ist gegenüber mein-zertifikat.de eine Profiversion, und ich bin sicher, dass Banken, Sparkassen und Vermögensverwalter rasch auf die Vollversion mit ihren vielfältigen Zusatzangeboten umsteigen werden, sobald sie den Service schätzen gelernt haben.
Stichwort Privatkunden-Zugang: Wird mit mein-zertifikat.de der Anlageberater nicht ein Stückweit zum Statisten?
Ganz im Gegenteil: der Anlageberater kann mein-zertifikat.de nutzen, um seine Beratungsqualität zu erhöhen. Er sollte Regisseur sein, in dem er für seinen Kunden ein strukturiertes Produkt passgenau gestaltet und ihm durch ein individuelles Zertifikat ein besonderes Kundenerlebnis verschafft. Er sollte darüber hinaus auch Coach sein, in dem er den Anleger anregt, die Plattform selbst zu nutzen, um anhand konkreter Preisindikationen in Echtzeit besser mit den Charakteristika von strukturierten Produkten in der Praxis vertraut zu werden.
Wie stellt Vontobel sicher, dass durch ihre Plattform die Börsen Frankfurt und Stuttgart nicht mit tausenden Produkten geflutet werden, die der «Besteller» am Ende gar nicht handelt?
Mein-zertifikat.de zielt längerfristig darauf ab, die Flut einzudämmen! Wir wollen den Paradigmenwechsel von einem Anbietermarkt hin zu einem Nachfragermarkt für individuelle Anlageprodukte in Deutschland forcieren. Gegenwärtig gibt es in Deutschland fast 600.000 Anlageprodukte, von denen etwa 80% während ihrer Laufzeit keinen einzigen Umsatz erleben. Insofern sind Neuemissionen, in denen tatsächlich ein – selbst wenn auch nur kleiner – Umsatz stattfindet, ein Gewinn für den Markt. Wir vertrauen darauf, dass die Nutzer nach einer Bestellung grundsätzlich auch in das Zertifikat investieren.
«Der Anlageberater sollte bei mein-zertifikate.de Regisseur sein – nicht Statist.»
Welche Anforderungen haben Sie an die Sekundärmarkt-Preisstellung, insbesondere die Spreads dort?
In dem Augenblick, in dem der Börsenhandel startet, ist für Aussenstehende nicht mehr erkennbar, dass das Produkt über den neuen Service an den Markt gekommen ist. Es ist ein Produkt wie jedes andere, mit den gleichen Spreads, mit den gleichen handelbaren Volumina. So kann sich auch ein Dritter für dieses Zertifikat entscheiden oder der ursprüngliche «Initiator» sein Zertifikat nach Erreichen seiner Kursziele jederzeit wieder veräussern.
Wann wird dieser Service auf andere Märkte ausgerollt?
Zunächst ist mein-zertifikat.de nur für Privatanleger aus Deutschland offen. Interessierten Nutzern aus der Schweiz können wir gegenwärtig leider aus rechtlichen Gründen kein Login für mein-zertifikat.de geben. Wir evaluieren bereits, wie wir mein-zertifikat.de auch in anderen Märkten anbieten können.
Läuten Sie mit diesem Angebot das Ende des klassischen Primärmarktgeschäfts ein?
Deritrade MIP in der Schweiz und mein-zertifikat.de in Deutschland sind Ausdruck des digitalen Wandels im Geschäft mit strukturierten Produkten und damit natürlich eine Herausforderung für das klassische Primärmarktgeschäft. Die klassische Vertriebsmethode wird weiterbestehen, sofern sie sich an das neue Umfeld anpasst. In der Schweiz gibt es jedoch einen klaren Trend: Deritrade MIP als Plattform mit sieben Emittenten verzeichnet stetig wachsende Absatzvolumina.
VITA
Dr. Wolfgang Gerhardt (60) leitet seit September 2010 den Bereich Financial Products Deutschland für die Vontobel Gruppe und ist Sprecher des Vorstandes der Bank Vontobel Europe AG in Frankfurt. Seit 1990 ist er im Bereich der strukturierten Wertpapiere tätig und hat seither die Entwicklung der Märkte in Deutschland, der Schweiz und im übrigen Europa begleitet und mitgestaltet. Nach Stationen bei der Schweizerischen Kreditanstalt, dem Schweizerischen Bankverein, der Citibank und Sal. Oppenheim in Frankfurt am Main war er von 2006 bis 2010 bei der Bank Sal. Oppenheim (Schweiz) AG in Zürich für das Geschäft der Gruppe mit strukturierten Produkten ausserhalb Deutschlands zuständig, seit 2008 als Mitglied der Geschäftsleitung.