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Europäisches Investment-Grade-Segment (IG): Kann die Rally von Dauer sein?

28.09.2020 8 Min.
  • David Stanley, Portfolio Manager in der Fixed Income Division

Die technische Unterstützung für europäische Anleihen könnte schon bald bröckeln.

Die Massnahmen von Regierungen und Notenbanken als Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie haben an den europäischen Kreditmärkten einige sehr günstige technische Faktoren ins Spiel gebracht, die ein Gegengewicht zur Verschlechterung der Fundamentaldaten bilden. Einige dieser Faktoren könnten jedoch demnächst an Kraft verlieren, bei gleichzeitiger weiterer Eintrübung des fundamentalen Umfelds. Anleger in europäischen Unternehmensanleihen sehen sich dadurch vor erhebliche Probleme gestellt.

In den vergangenen sechs Monaten haben technische Faktoren an den europäischen Kreditmärkten eine dominierende Rolle gespielt. Mit dramatischen Schritten versuchten die Regierungen in der Region, den wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen der Pandemie entgegenzuwirken. So kündigte die Europäische Zentralbank im März ein „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP; dt. Pandemie-Notfallkaufprogramm) im Umfang von 750 Mrd. EUR an, das später auf 1,35 Billionen EUR ausgeweitet wurde. Im Rahmen des Programms kauft die EZB Anleihen von EU-Mitgliedsstaaten in Rekordhöhe, um die Staaten bei der Bewältigung zusätzlicher Ausgaben zu unterstützen. PEPP knüpft an bestehende Fazilitäten an, insbesondere das „Asset Purchase Programme“ (APP; dt. Programm zum Ankauf von Vermögenswerten) und das „Corporate Sector Purchase Programme“ (CSPP; dt. Programm zum Ankauf von Wertpapieren des Unternehmenssektors).

Die EZB war nicht der einzige Käufer europäischer Unternehmensanleihen. Nach Kapitalabflüssen zu Beginn der Pandemie verzeichneten Fonds, die in Unternehmensanleihen mit Investmentqualität investieren, beständige Zuflüsse. Die Anleihekaufprogramme der Notenbank wirkten ermutigend auf Anleger, für die Staatsanleihen wegen der verschwindend geringen Spreads und Hochzinspapiere wegen des Ausfallrisikos nicht in Betracht kamen. Seit der Auflegung von PEPP lieferten Anleihen, die im Rahmen des Programms erworben werden können, eine bessere Performance als Papiere gleicher Qualität und Laufzeit, die die Kriterien für einen Ankauf nicht erfüllen: In Euro denominierte PEPP-fähige Anleihen europäischer Nichtfinanzunternehmen warfen höhere Renditen ab als Papiere von Emittenten mit Sitz außerhalb der Region, etwa in Großbritannien und den USA, die nicht an dem Programm teilnehmen können.

EU-Botschaft der Einigkeit stärkt Unternehmensanleihen

Weitere Unterstützung erhielt die europäische Wirtschaft im Juli, als sich die europäische Union (EU) darauf verständigte, 750 Mrd. EUR an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Die Summe fließt in einen Corona-Wiederaufbaufonds, aus dem Hilfen für Mitgliedsstaaten finanziert werden sollen. Von dem Geld werden etwa 390 Mrd. EUR als Zuschüsse fließen, die restlichen 360 Mrd. EUR in Form von Krediten. Empfänger sollen die von der Pandemie am stärksten betroffenen Länder sein – zum ersten Mal profitieren damit einige Mitgliedstaaten mehr als andere von gemeinsam geliehenen Mitteln. Die Maßnahmen waren zwar primär auf die Wirtschaft gerichtet, doch gleichwohl erhielten Unternehmensanleihen zusätzlichen Auftrieb durch die Botschaft der Einigkeit, die an die Adresse hochverschuldeter Staaten gesendet wird, und die Verhinderung stärkerer Schwankungen bei Staatsanleihen.

Parallel zu diesen Entwicklungen hat das Bruttoangebot an europäischen IG-Anleihen stark abgenommen, und das Nettoangebot hat mittlerweile ein negatives Vorzeichen. Damit haben sich die Verhältnisse seit der anfänglichen Verkaufswelle vom März, als die Emissionsvolumina drastisch gestiegen waren, ins Gegenteil verkehrt. Das Angebot nimmt zwar im Sommer regelmäßig ab, um dann im Herbst wieder anzuziehen, doch ein Vergleich mit den USA zeigt, dass dort das Emissionsvolumen im IG-Segment wesentlich robuster war.

Die Kombination von kräftig steigender Nachfrage und rückläufigem Angebot verhalf dem europäischen IG-Segment zur Erholung von dem wirtschaftlichen Schock, der die Märkte im Frühjahr in Bedrängnis gebracht hatte. Inzwischen haben sich die Spreads europäischer IG-Anleihen nach dem dramatischen Ausverkauf von Anfang März wieder deutlich erholt, sie liegen jedoch immer noch über dem Vorkrisenniveau. Die Anlageklasse scheint gegen negative Schlagzeilen weitgehend gefeit zu sein. Berichte, wonach die Erholung der Weltwirtschaft ins Stocken geraten und eine zweite Viruswelle bevorstehen könnte, hatten – bislang jedenfalls – keinen Einfluss auf die Spreads.

Kassaanleihen schneiden schwächer ab als Derivate

Eine weitere bemerkenswerte technische Entwicklung, die mit dem Coronavirus zusammenhängt, war die Underperformance samt anschließender Erholung von Kassaanleihen gegenüber Kreditausfall-Swaps (CDS). Als der Beginn der Pandemie an den Märkten eine allgemeine Verkaufswelle auslöste, sahen sich viele Unternehmen zur Emission von Anleihen gezwungen. Einige verhielten sich dabei besonnen, andere handelten aus einer Position der Schwäche, da sie dringend frisches Geld benötigten. Wer in einem rapide fallenden Markt Käufer für seine Anleihen finden wollte, war zu erheblichen Konzessionen gezwungen. Dadurch erhielt der Anstieg der Spreads zusätzliche Dynamik.

Der iTraxx Europe Index, der die 125 liquidesten CDS auf europäische IG-Unternehmensanleihen vereint, war zu Beginn der Pandemie ebenfalls höchst volatil. Die iTraxx-Spreads schnellten jedoch wesentlich weniger steil in die Höhe als die Cash-Bond-Indizes – nervöse Anleger setzten wegen der vermeintlich höheren Liquidität vorzugsweise auf Derivate. Vor der Pandemie war die durchschnittliche Differenz zwischen CDS und Anleihen nur leicht negativ (bei einer negativen Differenz ist der CDS-Spread kleiner als der Spread der Kassaanleihe); im März wuchs sie in einigen Sektoren auf -120, wodurch es vergleichsweise attraktiver wurde, Kreditrisiken in Form von Kassaanleihen einzugehen. Anschließend verringerte sich die Differenz wieder – Ende August lag sie in der Nähe von -30 Basispunkten.

Abnehmende technische Unterstützung könnte Volatilität anheizen

Technische Faktoren können eine sehr positive Wirkung auf die Spreads von Unternehmensanleihen und die Volatilität haben, die relativ lange andauern kann. Dabei lassen sich jedoch fundamentale Probleme nicht ignorieren – und diese sind überwiegend gewachsen, während sich die Spreads weiter verengt haben. Als Folge sind die Bewertungen gemessen an den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen und dem bislang moderaten Anstieg der Unternehmensschulden bereits überzogen. Rechtfertigen lassen sie sich eher mit den Aussichten für 2021 und auch nur unter der Annahme, dass sich die wirtschaftliche Erholung fortsetzt.

Die mittelfristigen Aussichten für die europäische Wirtschaft sind jedoch unsicher. Wenn es gelingt, eine zweite große Coronawelle und erneute landesweite Lockdowns zu vermeiden, könnte das Wachstum anziehen und die Anleihespreads dürften dann stabil bleiben. Sollte es jedoch zu einer größeren zweiten Welle der Pandemie mit der Folge längerer nationaler Lockdowns kommen (im Gegensatz zu den derzeitigen regional beschränkten Maßnahmen), wird die Wirtschaft wohl einen erneuten Einbruch erleben. Die Frage ist auch, was wohl bei einem schrittweisen Wegfall der staatlichen Hilfen passieren wird. Kommt es dann zu einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen und Firmenpleiten? In den USA stehen überdies im November die Präsidentschaftswahlen vor der Tür, und in ihrem Gefolge droht politische Unsicherheit, möglicherweise auch Volatilität an den Börsen.

Eine abnehmende Wirksamkeit der technischen Faktoren könnte vor diesem Hintergrund die Schwankungen verstärken und eventuell zu einer Erweiterung der Spreads führen. Die EZB hat gezeigt, dass sie bereit und in der Lage ist, zur Erholung der Eurozone maßgeblich beizutragen. Der Ankauf von Unternehmensanleihen soll nicht nur fortgesetzt, sondern bei Bedarf noch ausgeweitet werden. Allerdings ist zu erwarten, dass das Angebot am Markt nach dem Rückgang in den Sommermonaten bald wieder zunehmen und dann eher auf dem Niveau des Emissionsvolumens in den USA liegen wird. Das würde einen der zentralen technischen Faktoren, die europäische IG-Anleihen derzeit noch stützen, deutlich schwächen.

Zu einer Erweiterung der durchschnittlichen Spreads müsste es dabei kurzfristig nicht kommen. Wachsende Risiken und ein Anstieg der Volatilität sollten jedoch als Möglichkeit einkalkuliert werden. In diesem Fall dürften die Fundamentaldaten der Unternehmen wieder in den Fokus rücken. Die Anleger würden versuchen, Unternehmen mit soliden Bilanzen und hohen Cashflows ausfindig zu machen, die für weitere Volatilitätsschübe gut gewappnet sind und am Ende gestärkt aus der Krise hervorgehen könnten.

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