Ist das Wirtschaftswunder schon vorbei?
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David Milleker, Chefvolkswirt
Knapp an der technischen Rezession vorbei: So lässt sich das zweite Halbjahr 2018 mit Blick auf das deutsche Wirtschaftswachstum zusammenfassen. Die Wirtschaftsleistung ist im 3. Quartal um 0,2 % geschrumpft und im Jahresschlussquartal nur minimal gewachsen. Frühindikatoren signalisieren kaum Besserung.
Eine Rezession ist im eigentlichen Sinne mehr als nur eine schwächliche Wirtschaftsentwicklung für ein halbes Jahr. In den USA definiert beispielsweise das National Bureau of Economic Research eine solche als „breit angelegte und länger anhaltende Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung“. Am eingängigsten dürfte für die meisten Menschen wohl die Definition sein, dass eine Rezession mit einem erhöhten Risiko des Arbeitsplatzverlustes und einer steigenden Arbeitslosigkeit einhergeht. Davon ist Deutschland derzeit noch deutlich entfernt.
Auch die Detailsdaten des schwachen Wirtschaftswachstums im letzten halben Jahr sehen nicht ganz so schlecht aus, wie die Gesamtzahl vermuten lässt. Während die Produktion im steilen Sinkflug war, hielt sich die Konsum- und Investitionsnachfrage ordentlich. Das schwache Gesamtwachstum geht somit zum überwiegenden Teil auf einen drastischen Lagerabbau zurück. Freilich, das Wachstum zur Jahresmitte basierte auch auf einem deutlichen Lageraufbau insbesondere im Automobilsektor – die Bilder vom mit nichtzugelassenen Neuwagen zugeparkten Berliner Flughafen sprechen Bände.
Mahnende Worte ignoriert
Die jüngste Wirtschaftsschwäche sollte Deutschland zur kritischen Selbstreflektion anregen. Hochmut kommt ja bekanntlich häufig vor dem Fall. Und Hochmut war im deutschen Selbstbewusstsein in den letzten Jahren häufig anzutreffen. Gegenüber dem „faulen Griechen“ ebenso wie im Selbstverständnis, die deutschen Exportüberschüsse hätten viel mit der Produktqualität, aber rein gar nichts mit deutlich geringeren Lohstückkosten, also der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zu tun. Einwände, die etwa auf die hohe Wechselkurssensitivität der deutschen Exporte verwiesen, wurden in der Diskussion gerne beiseite gewischt. Ebenso wurden mahnende Worte zur hohen Sensitivität des deutschen Wirtschaftswachstums auf die Welthandelsdynamik ignoriert. Hier kommt natürlich das bekannte psychologische Argument zum Tragen, dass Erfolge immer die eigenen sind. Und an Misserfolgen sind immer externe Faktoren schuld.
Eingetrübtes Bild
Faktisch ist aber in den letzten Jahren etwas passiert, was im In- und Ausland nur unzureichend zur Kenntnis genommen worden ist: Die Lücke bei den Lohnstückkosten zwischen Deutschland und dem Rest des Euro-Raums hat sich in den letzten Jahren zunehmend geschlossen. Das weltwirtschaftliche Umfeld ist schwieriger geworden. Nicht zuletzt hat sich die Politik in den letzten Jahren nahezu ausschliesslich damit beschäftigt, sich mehr oder auch weniger sinnvolle Wohltaten wie die Mütterrente auszudenken. Zwar ist der Verfall der deutschen Infrastruktur, wie er noch Anfang des Jahrtausends durch ständige Sparprogramme gang und gäbe war, inzwischen gestoppt. Allerdings zeigt sich, dass die Öffentliche Hand gar nicht mehr über die Planungs- und Umsetzungskapazitäten verfügt, die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel tatsächlich „zu verbauen“. Entsprechend wenig realistisch sind auch die Wunschträume angelsächsischer Ökonomen zu bewerten, Deutschland solle und könne die konjunkturelle Schwächephase durch ein umfängliches Investitionsprogramm in die Infrastruktur schnell beheben.
In Summe ergibt sich folglich zwar kein tiefschwarzes, aber doch ein eher dunkelgraues Bild für die deutschen Wirtschaftsaussichten. Die Jahre, in denen die deutsche Industrie von unheimlichen (Lohn-)Kostenvorteilen und einem stetig zulegenden Welthandel zehren konnte, scheinen vorbei. Und ebenso die Zeiten, in denen Deutschland auch deshalb so hell strahlte, weil es allen Nachbarländern konjunkturell dramatisch schlechter ging.