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payoff Opinion Leaders

Schwacher Auftakt, starker Abschluss

11.02.2022 6 Min.
  • Nikolaj Schmidt, Internationaler Chefökonom

Aus Anlegersicht dürfte sich das Jahr 2022 taktisch negativ und strukturell positiv entwickeln

Der Beginn dieses Jahres wird von Schwäche geprägt sein, da verschiedene Negativfaktoren, darunter die Omikron-Variante des Coronavirus, das Wirtschaftswachstum belasten. Mit der Zeit werden diese Faktoren jedoch an Einfluss verlieren, und ich gehe davon aus, dass das Jahr 2022 mit einem starken Aufwärtstrend endet. Aus Anlegersicht würde ich die erwartete Entwicklung in diesem Jahr als taktisch negativ und strukturell positiv bezeichnen.

Beginnen wir mit dem strukturellen Ausblick: Warum bin ich in dieser Hinsicht optimistisch? Wenn ich die Weltwirtschaft betrachte, sehe ich einen enormen Nachfragestau, insbesondere außerhalb der USA, sowie nach wie vor bestehende Produktionslücken. Die Finanzierungsbedingungen sind weiterhin sehr günstig, und nach einem Jahrzehnt des Schuldenabbaus und der zuletzt sehr großzügigen Fiskalpolitik sind die Bilanzen in der Privatwirtschaft solide. Der Wermutstropfen ist die Inflation, die das allgemein erwartete Niveau deutlich überstiegen hat – selbst Marktbeobachter, die stets vor Inflation gewarnt haben, wurden durch das Ausmaß des Preisanstiegs überrascht. Folglich haben wir es mit einem Wirtschaftsumfeld zu tun, in dem die private Nachfrage erheblich steigen kann, sofern die Pandemieentwicklung dies zulässt.

Der Wermutstropfen ist die Inflation …

Die günstigen Finanzierungsbedingungen und die soliden Bilanzen der Privatwirtschaft dürften die Belebung der privaten Nachfrage unterstützen. Die lockere Geldpolitik wird derzeit zwar schrittweise zurückgenommen. Dank der nach wie vor bestehenden Produktionslücken sehen sich die Zentralbanken jedoch nicht gezwungen, das Tempo der Straffung so zu erhöhen, dass es den Konjunkturaufschwung gefährdet. Wenn sich die verbleibenden Produktionslücken im Laufe des Jahres schließen, dürften die geldpolitischen Entscheidungsträger ihre Straffungspläne jedoch mit wachsendem Nachdruck verfolgen.

So weit, so gut. Doch was ist mit der Inflation? Wenn ich mir die Inflationsberichte im Detail ansehe, finde ich zahlreiche Hinweise auf die viel diskutierten Probleme in den Lieferketten. In den USA beispielsweise ist der Autoabsatz derart stark eingebrochen, dass man vermuten könnte, die US-Wirtschaft befände sich in einer Rezession. Doch die Preise für Gebrauchtwagen sind in den vergangenen 18 um knapp 50% gestiegen. Aus diesen Zahlen schließe ich, dass die derzeitige Inflation nicht durch eine Überhitzung der Wirtschaft, sondern durch Beschränkungen auf der Angebotsseite verursacht wurde. Da die Lieferkettenprobleme allmählich gelöst werden, dürfte der größte Teil des Inflationsdrucks wieder nachlassen.

Und dann ist da noch China. Die Regierung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hat die globale Wachstumserholung im Jahr 2021 genutzt, um eine Reihe von Reformen einzuleiten. Dabei begann sie auch eine Kampagne, mit der das Verschuldungsniveau der chinesischen Wirtschaft insgesamt reduziert werden soll. Ich habe die Wachstumsabkühlung in China lange Zeit mit einer gewissen Sorge betrachtet, doch die chinesische Führung hat klargestellt, dass sie dem Wachstum künftig mehr Beachtung schenken wird. Ich erwarte keinen starken Konjunkturaufschwung – doch eine Stabilisierung und eine gewisse Erholung des Wachstumstrends, der sich in den vergangenen zwölf Monaten kontinuierlich abgeschwächt hat, wären eine gute Nachricht.

Obwohl ich also strukturell mit einer sehr positiven Entwicklung rechne, bleibe ich kurzfristig pessimistisch. Die Ausbreitung der Omikron-Variante dürfte die Wachstumsabkühlung, die sich meiner Meinung nach bereits abzeichnete, weiter verschärfen. Verursacht wird diese Verlangsamung durch drei Faktoren: Erstens durch die steigende Inflation, insbesondere bei den Energiepreisen, die die Kaufkraft der Haushalte schmälert; zweitens durch die Lieferkettenprobleme, die das Tempo der Kapitalakkumulation verlangsamt haben; und drittens durch negative Effekte der Fiskalpolitik, insbesondere in den USA. Zudem hat die US-Notenbank – die Zentralbank im Zentrum des Finanzsystems – eine restriktivere Haltung eingenommen. Die Anzeichen für eine Wachstumsstabilisierung unter der Führung Chinas, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, sind zwar ermutigend, doch insgesamt sind die Daten noch schwach.

Klarheit über Omikron-Maßnahmen wird den Fokus der Marktteilnehmer ändern

Werden die Finanzmärkte über die anfängliche Schwäche hinwegsehen und sich auf die positivere langfristige Entwicklung konzentrieren – oder werden sie den Fokus weiterhin kurzsichtig auf die aktuellen Probleme richten? Ich rechne damit, dass wachstumssensitive Anlagen wie Aktien eine gewisse Volatilität aufweisen können, da der Markt die Auswirkungen der Omikron-Variante und der etwas schnelleren Straffung der Geldpolitik durch die US-Notenbank noch nicht vollständig verdaut hat.

Wenn mehr Klarheit über die Maßnahmen gegen Omikron herrscht und die Lieferkettenprobleme allmählich nachlassen, dürfte sich die Aufmerksamkeit der Anleger wieder auf den strukturellen Ausblick richten – und der ist für Aktien sehr positiv. Doch der Markt kann nur dann langfristig denken, wenn sich der Weg zu dieser langfristigen Perspektive klarer abzeichnet – mit anderen Worten, wenn wir verstehen, welche Beschränkungen US-amerikanische und europäische Politiker voraussichtlich verhängen werden, um den Omikron-Ausbruch auf ein politisch vertretbares Ausmaß zu begrenzen.

… der Markt kann nur dann langfristig denken, wenn sich der Weg zu dieser langfristigen Perspektive klarer abzeichnet …

Somit fällt es den Marktteilnehmern derzeit schwer, den Fokus wieder auf die strukturelle Entwicklung zu richten. Unter diesem Vorbehalt rechne ich damit, dass die Anleiherenditen Ende 2022 deutlich über dem aktuellen Niveau liegen werden. Die Behebung der Lieferkettenstörungen dürfte zwar zu einer niedrigeren Inflation führen. Wahrscheinlich wird sie aber auch die Anleiherenditen in die Höhe treiben, da es den Zentralbanken immer leichter fällt, die geldpolitischen Anreize abzubauen. Der Markt wird diese Entwicklung wohl schon einige Zeit im Voraus erkennen.

Auf regionaler Ebene sehe ich außerhalb der USA einen größeren Nachfragestau und eine größere Produktionslücke. Sobald die kurzfristige Unsicherheit beseitigt ist, werden sich daher in anderen Regionen, insbesondere in Europa, interessantere Anlagechancen bieten.

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