Wieso die Schwellenländer die Aufmerksamkeit auf sich ziehen
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Stuart Canning, Anlageexperte
Über das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom: Ab wann sollten wir uns über Schwellenländerwährungen Sorgen machen?
Erinnern Sie sich an die „Fragilen Fünf“? Es handelte sich dabei um fünf Schwellenländerwährungen, die in der Phase der „Drosselungswut“ im Jahr 2013 als besonders anfällig für das Zurückführen des Quantitative Easing der US-Zentralbank angesehen wurden. Die grössten Bedenken für diese Volkswirtschaften betrafen ihre Anfälligkeit gegenüber Abflüssen von Auslandskapital. In letzter Zeit konnte man beobachten, dass diese Ängste erneut aufflammten, was durch die aktuelle Stärke des US-Dollar gegenüber den meisten wichtigen Währungen weltweit ausgelöst wurde.
Einige der ursprünglichen Fünf sind heute weniger fragil als es früher der Fall war. Dennoch sind in Teilen der aufstrebenden Welt durchaus reale Belastungen zu spüren, insbesondere in der Türkei und in Argentinien. Doch stellt sich die Frage: Die aussenwirtschaftlichen Schwachstellen dieser Volkswirtschaften, die die Märkte derzeit anzutreiben scheinen, existieren interessanterweise bereits seit vielen Jahren, und die kurzfristigen Zinsen in den USA steigen seit 2015 an. Was ist der Grund dafür, dass Anleger diesen Risiken in manchen Phasen Bedeutung beimessen und in anderen nicht? Weshalb kommen die jüngsten Probleme in Argentinien für Anleger scheinbar überraschend?
Es ist verlockend, dieses Marktverhalten schlichtweg als ein weiteres Beispiel für Trägheit, Gier und Selbstgefälligkeit abzutun. Dies wäre jedoch allzu einfach. Verhaltensbezogene Einflüsse spielen zwar eine Rolle, dies gilt jedoch auch für die echten Merkmale dieser Risikoarten. Anleger müssen sich im Klaren darüber sein, was davon dominiert, wenn sie Chancen identifizieren wollen.
Über lange Zeiträume sind die Fundamentaldaten wichtig…
Betrachtet man die Währungen der „Fragilen Fünf“ sticht die deutlich ausgeprägte Schwäche der türkischen Lira gegenüber den anderen vier Währungen am stärksten hervor. Dies ist insofern verständlich, als dass sich die Fundamentaldaten in der Türkei seit 2013 verschlechtert haben, während sich die anderen jeweils verbesserten. Ersichtlich ist das anhand der Entwicklung in der Leistungsbilanzposition. Man macht es sich oft zu leicht, wenn man sich ausschliesslich das Defizit als Indikator für Schwachstellen anschaut (in manchen Wirtschaftslagen kann es durchaus günstig erscheinen), aber in diesem Fall hat die daraus gewonnene Erkenntnis tatsächlich Gültigkeit.
Indem man Argentinien der Länderliste hinzufügt, können wir darüber hinaus erkennen, wie die jüngsten Probleme entstanden sind. In dieser Hinsicht haben die Entwicklungen der Märkte keine verhaltensbezogene Komponente. Aus wirtschaftlicher Perspektive ist eine Anpassung der Währung zur Korrektur des Ungleichgewichts notwendig. Für Investoren bedeutet das ein real erhöhtes Risiko, das eine zusätzliche Kompensation erforderlich macht. Die letztendliche Destination einer Währung wird üblicherweise im Einklang mit der Entwicklung der zugrundeliegenden Fundamentaldaten stehen.
… aber die Risiken sind relativ und binär
Mit Blick auf diese aussenwirtschaftlichen Schwachstellen gibt es jedoch eine weitere Herausforderung für Anleger: Risiken sind relativ, und sie können durchaus binäre Merkmale aufweisen. Relativ sind sie aus dem Grund, dass – im Asset Pricing jedenfalls – die Leistungsbilanz manchmal eine Rolle spielt und manchmal nicht. Wenn wir uns beispielsweise die jüngsten Schwächephasen von Schwellenländerwährungen anschauen, spielte die Leistungsbilanz am Wendepunkt von US-Zinsen und dem DXY Dollar Index (exemplarisch für die allgemeine Stärke des US-Dollars) eine Rolle, aber nicht in anderen Phasen.
Was noch schlimmer ist: Wenn die Leistungsbilanz eine Rolle spielt, kann das Ergebnis richtig schlecht ausfallen (daher „binär“). Zahlungsbilanzkrisen können eine ähnliche Dynamik wie ein „Banken-Run“ aufweisen: Sie werden von der Stimmung der Anleger getrieben, sie können sich selbst bewahrheiten und sie können in den Ruin führen.
Anhand einer Reihe von Kennzahlen kann man quantitative Beurteilungen darüber herleiten, wie anfällig ein Land für Kapitalabflüsse ist. Fokussiert man sich jedoch zu obsessiv auf Veränderungen dieser Daten, sieht man unter Umständen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wie im Falle eines Banken-Runs sind auch Zahlungsbilanzkrisen (im Gegensatz zur einfachen Zahlungsunfähigkeit von Dollar-Verbindlichkeiten) mit Blick auf den zeitlichen Ablauf grösstenteils unvorhersehbar, und manche ereignen sie nie.
Die menschliche Komponente
Solche Entwicklungen sind für Anleger eine Herausforderung und können erheblichen emotionalen Stress verursachen. Lehnen wir das Spiel ab, da ein echtes Risiko für einen vollständigen Ruin besteht? („Vorsichtsprinzip“)? Oder ignorieren wir einfach die „Tail Risks“ und hoffen, dass uns Risikoprämie und Diversifizierung lauf lange Sicht profitieren lassen?
Manch einer wird sich für die eine oder andere dieser extremen Positionen entscheiden, aber das allgemeine Marktverhalten läuft häufig auf einen Kompromiss heraus und schwingt zwischen scheinbarer Unbekümmertheit und Zeichen von Panik hin und her. Es ist die menschliche Komponente hinter diesen Übergängen, die Anlagechancen hervorbringen kann.
Jeden Tag erhalten wir unzählige Informationen, und wir müssen einen Filter einsetzen, um zu entscheiden, welche dieser Informationen ein „Signal“ sind (und relevant für die zu treffenden Entscheidungen) und bei welchen es sich um kurzfristige Marktbewegungen handelt, um dann entscheiden zu können, wie viel Beachtung wir den jeweiligen Informationen zukommen lassen.
Dieser Filterprozess läuft grösstenteils unbewusst ab. Hier werden folglich verhaltensbezogene Neigungen sichtbar. Wenn wir unter Zeitdruck stehen, wenn es sehr mühsam ist, ein Signal zu interpretieren oder wenn eine Variable Besorgnis erregt, werden wir entsprechend mehr oder weniger Aufmerksamkeit zollen. Beispielsweise würden wir die Informationen über die Leistungsbilanz und Währungsreserve Argentiniens als Einflussfaktor auf unsere Anlageentscheidungen in normalen Zeiten herunterspielen, wenn aber die argentinische Zentralbank die Zinsen drei Mal in acht Tagen erhöht, bekommen diese Faktoren plötzlich wesentlich mehr Gewicht – vielleicht auch zu Lasten anderer Kräfte.
Die Suche nach Anlagechancen und die aktuelle Lage
Anlagechancen entstehen durch die verhaltensorientierte Verschiebung von Aufmerksamkeiten. Machen sich Anleger heute zu viele Sorgen über die Anfälligkeit der Schwellenländer? Eine Möglichkeit, um dies zu beurteilen, ist der Blick auf die Natur des Kursverhaltens. Die Schwäche der türkischen Lira in den letzten fünf Jahren entwickelte sich beispielsweise graduell, was nahelegt, dass Anlageentscheidungen nicht unter Stress getroffen wurden. Im Gegensatz dazu erscheint die jüngste Schwäche eher „episodischer“ Natur zu sein, ebenso wie die jüngsten Marktberichte.
Dagegen muss dann die Möglichkeit abgewogen werden, dass das Wertpotenzial als langfristiger „Anker“ für das Kursverhalten und als Anhaltspunkt für die Erträge fungiert. Im Hinblick auf Währungen ist die „Preismodellunsicherheit“ hoch, Kassakurse können in extremem Ausmass ausschlagen und die Wahrnehmung eines „fairen Wertes“ ist schwächer als bei anderen Vermögenswerten. In Kombination mit der binären Natur von Zahlungsbilanzrisiken legt dies nahe, dass es angebracht ist, vor dem Investieren nach extremeren Signalen, als es bei anderen Vermögenswerten der Fall ist, Ausschau zu halten.
Ein weiteres Zeichen dafür, dass verhaltensbezogene Kräfte die Kurse antreiben, wäre eine Ansteckung. Wären alle Schwellenländerwährungen in gleichem Ausmass betroffen, könnte dies darauf hindeuten, dass eine Panik der Grund für willkürliche Verkäufe und kürzere Anlagehorizonte bei den Anlegern ist. Das war bisher in diesem Jahr zwar noch nicht der Fall, aber in letzter Zeit gibt es Anzeichen für eine Ansteckung. Die Märkte zeigen sich relativ kritisch. Die Währungen, die abgewertet haben, waren tendenziell diejenigen mit den grössten fundamentalen Schwierigkeiten.
Gegenwärtig scheint es also, dass, insofern sich Chancen ergeben, diese „im Zentrum des Sturmes“ liegen und es stellt sich die Frage, ob die Entwicklungen in der Türkei und in Argentinien übertrieben sind.
Letztendlich wird es auf beiden Seiten immer gute Argumente dafür geben, ob Chancen entstehen, entweder in bestimmten Ländern oder in den Schwellenländern insgesamt. Aber eine Faustregel ist normalerweise hilfreich: Wir sollten uns dann am meisten Sorgen machen, wenn die Aufmerksamkeit des Marktes am geringsten ist. Und wir sollten dann nach Chancen Ausschau halten, wenn der Markt in grösster Sorge ist. Im jetzigen Moment können wir nicht leugnen, dass die Schwellenländer die Aufmerksamkeit der meisten Menschen auf sich gezogen haben.