Halbzeit 2022 – Die Bären sind los!
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Serge Nussbaumer, Chefredaktor
Ukrainekrieg, Inflation und steigende Zinsen haben die Börsen im ersten Semester jäh ausgebremst. Auch für die weiteren Aussichten spielen diese drei Faktoren eine zentrale Rolle. Wenngleich Teuerung sowie Geo- und Geldpolitik es den Bullen gerade schwer machen: Es gibt durchaus Argumente für eine Aufholjagd von SMI & Co.
Im März 1979 lief im US-Sender CBS der erste Teil von «Die Bären sind los». Über 26 Episoden begleitet diese Serie eine Baseballmannschaft. Bei vielen über 40-Jährigen dürften ein paar Takte der Titelmelodie «Los Toreadores» aus der Oper «Carmen» reichen, um die Erinnerungen an dieses Kinder- und Jugendformat zu wecken. Investoren aus derselben Altersgruppe werden den Titel der Serie auch aus der Börsenberichterstattung kennen. Dagegen sehen sich viele jüngere Anleger gerade zum ersten Mal mit der Schlagzeile «Die Bären sind los» konfrontiert. Am 22. Juni war es beim SMI so weit: Der Schweizer Leitindex notierte mehr als ein Fünftel unter dem Allzeithoch. Damit befanden sich die heimischen Large Caps per Definition im Bärenmarkt. An der Wall Street hatte der S&P 500 Index diesen Kipppunkt schon neun Tage zuvor erreicht.
«Die Bären haben das Zepter am Ende eines Semesters übernommen.»
Zuviel des Schlechten
Die Bären haben das Zepter am Ende eines Semesters übernommen, zu dessen Beginn die Bullen nur so vor Kraft strotzten. Am 3. Januar startete der SMI mit einem Allzeithoch in das Jahr, an der Wall Street ertönte die Rekordglocke tags darauf. Zu diesem Zeitpunkt rechneten Strategen und Analysten mehrheitlich mit einem soliden Wirtschaftswachstum und weiter steigenden Unternehmensgewinnen. Gleichzeitig gingen sie davon aus, dass die Inflation nachlässt. Insofern war allenfalls eine moderate Straffung der Geldpolitik durch die grossen Notenbanken zu erwarten. Diese Szenarien gingen häufig mit der Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Ukrainekonfliktes einher.
Die vergangenen sechs Monate haben die meisten Akteure eines Besseren belehrt. Seit dem 24. Februar sorgt der Krieg in der Ukraine für unermessliches Leid und stellt die Geopolitik vor eine Zerreissprobe. Gleichzeitig verschärft die russische Invasion im Nachbarland die Probleme in den Lieferketten. Hinzu kamen neuerliche Corona-Lockdowns in China, die den globalen Warenverkehr noch stärker ausbremsten. Krieg und allgemeine Knappheit forcierten die Verteuerung vieler Rohstoffe, allen voran Öl und Gas. Sie ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Inflation in den vergangenen Monaten noch einmal kräftig angezogen hat.
«An der Spitze des Performance-Rankings stehen die Rohstoffe, allen voran Öl.»
Zeitenwende im Fixed Income-Segment
Aus der skizzierten Gemengelage resultiert eine von tiefroten Vorzeichen geprägte Börsen-Halbzeitbilanz (siehe Grafik 1). Besonders stark erwischte die Korrektur die über Jahre hinweg haussierende Wall Street. Kurz vor dem Semester-Ultimo drohte dem US-Leitindex S&P 500 das schwächste erste Halbjahr seit den 1930-Jahren, der Zeit der Grossen Depression. An der Spitze des Performance-Rankings stehen die Rohstoffe, allen voran Öl. Der breit diversifizierte UBS Bloomberg CMCI Index legte um annähernd ein Fünftel zu. Eine markante Aufwertung erlebte der US-Dollar. Einerseits war der Greenback als «Safe Haven»-Asset gefragt, gleichzeitig profitierte er von der Zinswende in den Staaten. Mittlerweile wirft der 10-jährige US-Treasury 3.15% ab. Seit dem Jahreswechsel hat sich der Ertrag aus dieser Benchmark-Obligation damit mehr als verdoppelt.
Eigentlich gelten Banken und Versicherungen als Profiteure der Zinswende. Doch dieser Effekt ist bei den Aktien aus den beiden Wirtschaftszweigen nach einem starken Jahresauftakt schnell wieder verpufft. Immerhin: Europas Bank- und Versicherungstitel schnitten 2022 bis dato besser ab als der breite Markt. Im aktuellen Ranking (siehe Grafik 2) sind sie im vorderen Drittel angesiedelt. Öl- und Gasaktien konnten als einziger Sektor prozentual zweistellige Gewinne erzielen.
Gratwanderung für Fed & Co.
«Wir befinden uns in einer neuen Realität», stellt Maurizio Porfiri, CIO von CAT Financial Products, fest. Er hat sich Mitte Juni in unserem Podcast «znüni» ausführlich zu aktuellen Lage geäussert. Nach Ansicht des erfahrenen Börsenexperten wird die Inflation ein bestimmendes Thema bleiben. Angesichts der enormen Teuerung (siehe Grafik 3) befänden sich die Notenbanken auf einer Gratwanderung. «Für sie gilt es, die Inflation zu drücken und gleichzeitig eine Rezession zu verhindern», meint Porfiri. Seiner Ansicht nach wird der Preisdruck aber nachlassen. Als ein Indiz hierfür wertet Porfiri die Tatsache, dass die Inflationsraten für Energie und Lebensmittel in den USA im Mai weniger stark angezogen haben, als noch in den Monaten zuvor.
Gleichwohl dürfte die US-Notenbank die Zügel weiter straffen. «Wir müssen wirklich die Preisstabilität wieder herstellen», sagte Fed-Chef Jerome Powell bei seiner halbjährigen Anhörung vor dem US-Kongress. Anders sei es nicht möglich, eine anhaltende Phase der Vollbeschäftigung zu erreichen. Powell machte keinen Hehl daraus, dass die restriktivere Gangart auch negative Effekte auslösen kann. «Wir haben keine Präzisionswerkzeuge», erklärte er. Doch selbst bei einem moderaten Anstieg der Arbeitslosigkeit von zuletzt rekordtiefen 3.6% würde der Jobmotor in den USA brummen. Der oberste Währungshüter geht jedenfalls davon aus, dass die Konjunktur im zweiten Semester nach einem schwachen Jahresauftakt wieder Fahrt aufnimmt.
«Gleichwohl dürfte die US-Notenbank die Zügel weiter straffen.»
Alternatives Zins-Szenario
Maurizio Porfiri traut der weltgrössten Volkswirtschaft ein Wachstum zwischen 2% und 3% zu. Die aktuellen Zinserwartungen erachtet er als zu hoch. Geht es nach dem «FedWatch Tool» der CME Group, wird der Leitsatz in den USA bis kommenden Februar noch um rund drei Prozentpunkte nach oben gehen. «Das wären zwölf Schritte à 25 Basispunkte», rechnet Porfiri im Börsentalk vor. Er hält acht bis neun Erhöhungen in diesem Ausmass für das wahrscheinlichere Szenario.
Gleichwohl hält es der Anlageprofi noch für zu früh, um an der Börse Entwarnung zu geben. «Die Volatilität könnte weiter ansteigen», meint Porfiri. Folgerichtig hält er einen «Washout», im Zuge dessen Aktien auf breiter Front abverkauft werden, für möglich. «Bis jetzt gab es keine wirkliche Kapitulation», erklärt der CIO. Nach einer Stabilisierung könnten sich für die Investoren neuen Chancen bieten.
Kennziffer mit drei Buchstaben
Mit dem vorsichtigen Optimismus ist der Anlagechef der Zürcher Finanzboutique nicht alleine. Ins Lager der Bullen gesellt sich auch J.P. Morgan. Laut Marko Kolanovic, Chief Global Markets Strategist & Co-Head of Global Research, ist zwar das Risiko für eine Rezession deutlich gestiegen. Gleichwohl zählt eine schrumpfende Weltwirtschaft nicht zum Basisszenario der US-Bank. «Wir gehen sogar davon aus, dass sich das weltweite Wachstum von 1.3% in der ersten Jahreshälfte auf 3.1% im zweiten Semester beschleunigen wird», schreibt Kolanovic in einem aktuellen Ausblick. Unter der Annahme, dass es nicht zu einer Rezession kommt, erachtet Kolanovic die risikoreichen Anlageklassen als zu günstig. «Beispielsweise werden Small-Cap-Aktien in den USA derzeit mit den niedrigsten Bewertungen aller Zeiten gehandelt», berichtet der Stratege.
«Auch bei den Schwergewichten der Wall Street hat sich diesbezüglich einiges getan.»
Auch bei den Schwergewichten der Wall Street hat sich diesbezüglich einiges getan. Laut Factset ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) für den S&P 500 seit Silvester 2021 um mehr als ein Viertel auf zuletzt 15.8 geschrumpft. Damit bewegt sich diese Bewertungskennziffer unter ihrem 10-Jahres-Durchschnitt (siehe Grafik 4).
Über die Aussagekraft dieser Feststellung lässt sich trefflich streiten. Schliesslich geht die Wall Street bis dato davon aus, dass die Gewinne der S&P 500-Mitglieder im laufenden Jahr um gut ein Zehntel wachsen. Bereits in der kommenden Quartalssaison wird sich zeigen, wie viel der Konsens taugt. Angenommen, die Unternehmen enttäuschen reihenweise und lösen damit eine Abwärtsrevision bei den Ergebnisschätzungen aus: Dann würde das KGV bei einem unveränderten «K», sprich stabilen Kursen, automatisch nach oben gehen.
Bullen in der Bredouille
Diese Rechnung führt auf direktem Weg in das Lager der Bären. Schliesslich zeigt sie, wie wenig es braucht, um den Optimismus bei Seite zu wischen. Neben enttäuschenden Unternehmensmeldungen könnten schwache Konjunkturdaten und insbesondere eine noch einmal anziehende Inflation den Abwärtstrend an den Börsen verstärken. Sollten die Konsumentenpreise in den USA weiter nach oben gehen, würde der politische Druck auf die Fed zunehmen. Das gilt umso mehr, da im November Zwischenwahlen für den Kongress anstehen. Bei den so genannten Midterms kommt die Arbeit der Biden-Administration, auch und gerade ihr Kampf gegen die Inflation, auf den Prüfstand.
Neben diesem Urnengang wird die Geopolitik die Investoren weiter beschäftigen. Eine Waffenruhe in der Ukraine könnte hier für eine deutliche Entspannung sorgen. Allerdings machte Moskau zum Halbjahr keine Anstalten, die Bombardements einzustellen. Der nicht auszuschliessende Langzeitkonflikt im Osten Europas ist ein Grund, weshalb sich die Märkte zuletzt mit einer Erholung oder wenigstens Stabilisierung ziemlich schwer taten. Laut J.P. Morgan ist das bullische Szenario momentan schlicht nicht mehrheitsfähig. «Der durchschnittliche Investor erwartet ein ökonomisches Desaster», bringt Marko Kolanovic die Stimmung auf den Punkt.
Anlagelösungen: Renaissance eines Klassikers
Da trifft es sich gut, dass Kapitalschutz-Zertifikate ein Comeback geben. Sie bieten die Möglichkeit, am Aktienmarkt positioniert zu bleiben und gleichzeitig ruhig zu schlafen. Möglich macht die Rückkehr dieser Struktur das erhöhte Renditeniveau. Dem Kapitalschutz-Zertifikat liegt eine Nullcouponanleihe zugrunde. Hier erhält der Anleger die Ausschüttung gleich zur Emission in Form eines Abschlags auf den Nennbetrag. Die Struki-Anbieter nutzen dieses Gap zur Finanzierung einer Optionskomponente, welche wiederum die Partizipation am Basiswert ermöglicht. Prinzipiell gilt: Je höher die Zinsen, desto attraktivere Konditionen sind möglich.
Eine Probe aufs Exempel kommt von der Credit Suisse in Form der Capital Protected Note AIGLCS. Zum Laufzeitende in fünf Jahren garantiert die Emittentin die vollständige Rückzahlung der Denomination in Höhe von CHF 1’000. Gleichzeitig würde das Produkt bis zum Cap von 40% der Anfangsfixierung an steigenden Kursen beim SMI partizipieren. Grob gerechnet wären Anleger also bei Avancen des heimischen Leitindex bis in den Bereich von 15’000 Punkten dabei.
Anleger, die sich ohne Wenn und Aber in das Lager der Bullen gesellen, werden im ETF-Segment fündig. Einen günstigen passiven Zugang zur Wall Street bietet SPXS. Invesco bildet unter diesem Kürzel den S&P 500 Index gegen eine tiefe Gesamtkostenquote von 0.05% p.a. ab. Die Ausschüttungen der US-Large Caps werden bei diesem mehr als CHF 11 Milliarden schweren Fonds thesauriert. Wer die Dividenden separat abgreifen möchte, kann zur ausschüttenden Variante SPXD greifen. J.P. Morgan traut dem S&P 500 übrigens einen «U-Turn» zu. Per Ende Jahr sieht das Wall Street-Haus die Benchmark bei 4’800 Punkten – gut ein Fünftel höher als aktuell.
Gleichzeitig gehen die Analysten davon aus, dass Öl & Co. weiter nach oben tendieren. «Wir glauben nach wie vor an den Rohstoff-Superzyklus», heisst es im Ausblick. J.P. Morgan erachtet sowohl die Naturwaren selbst als auch verwandte Anlagen wie Rohstoffunternehmen und -länder als wertvolle Ertragsquellen. Gleichzeitig stelle diese Anlageklasse eine gute Absicherungsmöglichkeit gegen das Inflationsgespenst und geopolitische Risiken dar. Da wir diese Einschätzung teilen, zählt das Tracker-Zertifikat CCMCIU zu unseren Favoriten. Das Produkt bildet den UBS Bloomberg CMCI Composite CHF Monthly Hedged TR Index ab.