Deutschland zwischen Stimmungstief und Höhenrausch
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Serge Nussbaumer
Chefredaktor
Gestern noch Exportweltmeister, heute im Wachstumstief: Die deutsche Wirtschaft schwächelt und auch in der Industrie bröckelt der Glanz vergangener Tage. Doch wer genau hinschaut, erkennt erste Lichtblicke. Und am Aktienmarkt hat der Aufschwung längst begonnen. Anlageziele gibt es bei unseren Nachbarn genug – und zwar sowohl für konservative als auch für risikobereite Investoren.
Mit den steigenden Temperaturen in Deutschland steigt auch die Stimmung in Europas grösster Volkswirtschaft. Laut einer aktuellen Umfrage der Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) blicken die Unternehmen etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Wurde im Februar noch ein Minus von 0.5% für 2024 prognostiziert, rechnet der Verband nun mit einer Stagnation. Zwar sind IWF und OECD mit ihren Prognosen von 0.3% Wachstum noch etwas optimistischer, doch würde Deutschland damit so schlecht abschneiden wie kein anderes grosses Industrieland.
Ausfuhren senden Lichtblick
Apropos Industrie: Hier ist die Lage laut DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben besonders ungünstig. «Die Erosion setzt sich fort», sagt der Experte und sieht vor allem in der schwachen Inlandsnachfrage, den hohen Energie- und Rohstoffkosten sowie im Fachkräftemangel die höchsten Risiken. Die Exporterwartungen haben sich dagegen zuletzt verbessert. Der entsprechende Index kletterte im Mai auf Plus 0.3%, nachdem er im April noch bei Minus 1.5 Zähler lag. Das ist der höchste Wert seit gut einem Jahr. «Die globale Konjunktur nimmt an Fahrt auf», kommentiert DIHK-Konjunkturexperte Jupp Zenzen und führt weiter aus: «Der Transmissionsriemen, dass eine wachsende Weltwirtschaft auch der heimischen Industrie Auftrieb verleiht, wirkt aber weniger stark, als wir es in der Vergangenheit gewohnt waren».
Zollstreit belastet
Aktuell befinden sich die Europäische Union und die USA in einem Zollstreit mit China. Nachdem Washington jüngst chinesische E-Autos, Halbleiter und zahlreiche andere Produkte mit Strafzöllen überzogen hat, die ab August auf 100% steigen sollen, möchte die EU-Kommission im Juni entscheiden, ob sie ebenfalls Anti-Dumping-Zölle auf Stromer aus dem Reich der Mitte verhängt. Peking sieht dem Treiben nicht tatenlos zu und bringt ihrerseits ebenfalls höhere Abgaben ins Spiel. Im Raum stehen 25% Einfuhrzoll für westliche Verbrennerfahrzeuge mit grösseren Motoren. Das dürfte insbesondere die deutschen Autobauer BMW und Mercedes treffen. Als «Warnschuss» bezeichnet Stuart Cole, Chefvolkswirt beim Finanzdienstleister Equiti Capital, diese Aussagen aus China.Gemessen am gesamten Aussenhandelsvolumen ist die Volksrepublik der wichtigste Handelspartner Deutschlands, und das nun bereits acht Jahre in Folge. Auch EU weit spielt China eine wichtige Rolle. Ausschliesslich bezogen auf die Exporte ist das riesige Reich der drittgrösste Partner. Im vergangenen Jahr gingen 8.8% der Waren nach Fernost.
Doch zurück zu den Autobauern, für die China ein besonders wichtiger Markt ist, insbesondere in Bezug auf E-Fahrzeuge. Nach starken Rückgängen bei den Zulassungszahlen zeichnete sich zuletzt eine Wende ab. So haben Mercedes, BMW, VW & Co. im vergangenen Jahr laut der Beratungsgesellschaft PwC 49% mehr Stromer in der Volksrepublik als im Vorjahr verkauft. Im Schlussviertel war die Wachstumsrate bei den deutschen Herstellern sogar doppelt so hoch wie die im Markt. Wegen den Zöllen müssen sich die deutschen Autobauer auch gar nicht so viele Sorgen machen. Zieht man die lokale Produktion mit ein, ist die Bedrohung laut dem US-Analysehaus Bernstein Research geringer als die Schlagzeilen es vermuten lassen. «BMW und Mercedes haben 2023 nur noch 17% der dort verkauften Fahrzeuge importiert. Bei Volkswagen liegt diese Zahl noch niedriger, nämlich bei 5%», so Analyst Stephen Reitman.
Wachstumshoffnungen im Reich der Mitte
Unterstützung könnte die deutsche Industrie von einer konjunkturellen Wende in China erhalten. Der Start ins neue Jahr ist bereits gelungen. Nach Angaben des Statistikamtes in Peking wuchs die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt im 1. Quartal um 5.3% gegenüber dem Vorjahreszeitraum, während Ökonomen im Schnitt nur mit 4.8% gerechnet hatten. Der IWF hob daraufhin seine Schätzungen für 2024 und 2025 um jeweils 0.4 Prozentpunkte auf 5.0% bzw. 4.5% an.
Die Nachhaltigkeit des Aufschwungs muss sich aber erst noch zeigen, laut Experten trugen vor allem die hohen staatlichen Investitionen das Wachstum. Ein detaillierter Blick in die Wirtschaft offenbart auch weiterhin Schwächen. So legte die Industrieproduktion im März im Jahresvergleich mit 4.5% langsamer als von Analysten erwartet zu, die Einzelhandelsumsätze lagen mit einem Plus von 3.1% ebenfalls unter den Prognosen. Im April reduzierte sich das Wachstum im Detailhandel sogar auf 2.3%. Derweil sendete die Industrieproduktion mit einem überraschend hohen Plus von 6.7% einen Hoffnungsfunken. «Wenn die Erholung in China weiterhin nur industrieseitig erfolgt, wird das auch für die deutsche Industrie eine harzige Sache», sagt Chefstratege Christian Gattiker von Julius Bär.
Geht es der chinesischen Wirtschaft gut, geht es auch Deutschland gut. Das kommt nicht von ungefähr: Kein anderes Land in Europa ist laut Konrad-Adenauer-Stiftung so eng mit China verflochten wie Deutschland. Das weiss auch die Politik und so wählte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem letzten Besuch in Peking klare Worte: «Uns, in Deutschland und Europa, geht es darum, einseitige Abhängigkeiten zu verringern, unsere Lieferketten zu diversifizieren und Risiken für die Wirtschaft zu reduzieren – ein Ziel, das China seit einiger Zeit selbst verfolgt.» Eines ist aber klar: Ohne China wird es nicht gehen. Egal, ob beim Handel mit Rohstoffen, als Zulieferer oder Absatzmarkt, das Reich der Mitte bleibt ein entscheidender Erfolgsfaktor für die europäische Industrie.
Konsum als Wachstumstreiber
Damit das Wirtschaftswachstum wieder ins Rollen kommt, finden sich noch weitere Treiber, allen voran der Konsum. Laut der Bundesbank, die sich auf Umfrageergebnisse des Ifo-Instituts für die konsumnahe Dienstleistungsbranchen bezieht, dürften die steigenden realen verfügbaren Haushaltseinkommen gegenüber der Verunsicherung der Konsumenten die Oberhand gewinnen. «Weitere Kaufkraftgewinne sind zu erwarten, da der Arbeitsmarkt voraussichtlich robust bleibt und die Löhne weiter kräftig steigen», so die Experten. Die Volkswirte der deutschen Zentralbank gehen davon aus, dass die Wirtschaftsleistung im 2. Quartal erneut etwas gestiegen sein dürfte. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) legte von Januar bis März um 0.2% gegenüber dem Vorquartal zu, nachdem es Ende 2023 noch um 0.5% geschrumpft war.
Mit Blick auf die Industrie zeigt sich die Bundesbank noch nicht ganz so zuversichtlich. Zwar wird von einer moderaten Erholung der energieintensiven Branchen ausgegangen. Für eine nachhaltige Belebung müssten aber auch die Neuaufträge auf breiter Front wieder anziehen. Die aufgehellten Geschäftserwartungen im Verarbeitenden Gewerbe dürften sich daher erst in der 2. Jahreshälfte in spürbar mehr Schwung in der Produktion niederschlagen. Das Fazit der Bundesbank-Experten fällt dennoch verhalten optimistisch aus: «Insgesamt dürfte die Konjunktur in der Grundtendenz allmählich etwas an Fahrt gewinnen».
Zurück zum Konsum: Hier stehen in Europa noch zwei wichtige Grossereignisse an. Zum einen die Olympischen Spiele in Paris, zum anderen die Fussball-Europameisterschaft in Deutschland. Millionen Fans aus dem In- und Ausland könnten – unabhängig vom Ausgang der EM – für ein «Sommermärchen» für die deutsche Wirtschaft sorgen. So hofft die Tourismusbranche nach den schwierigen Corona-Jahren in diesem Jahr auf einen Rekord. Zudem rechnen 39% der Hotel- und Gastronomiebetriebe in den zehn Austragungsorten mit steigenden Umsätzen. Auch der Einzelhandel sieht frische Impulse durch die Besucherströme. «Das kann dem Konsum vor Ort positive Impulse geben», sagt ein Sprecher des deutschen Branchenverbandes HDE. Rückenwind durch die EM erwarten auch Unternehmen wie das Buchungsportal AirBnB oder der Sportartikelhersteller Adidas.
Positive Frühindikatoren
Auch die jüngsten Stimmungsindikatoren deuten auf eine Verbesserung hin. Der auf die Privatwirtschaft ausgerichtete Einkaufsmanagerindex stieg im Mai um 1.6 Punkte auf insgesamt 52.2 Punkte und erreichte damit den höchsten Stand seit einem Jahr. Im Servicesektor liefen die Geschäfte noch besser als im April und die Industrieproduktion stabilisierte sich weiter. Der Wert für den Service-Sektor stieg um 0.7 Punkte auf 53.9 Zähler, der Index für den angeschlagenen Industrie-Sektor blieb zwar mit 45.4 Zählern noch deutlich unter der Wachstumsschwelle von 50 Punkten, verzeichnete aber ein sattes Plus um 2.9 Punkte. «Dies könnte die Trendwende in der Industrie sein», kommentiert Chefvolkswirt Cyrus de la Rubia von der Hamburg Commercial Bank die neuen Zahlen.
Konjunkturfördernd würden sich auch niedrigere Zinsen auswirken. Der Ball liegt diesbezüglich bei der Europäischen Zentralbank. Jüngste Aussagen von EZB-Vertretern machen Hoffnung. Laut Vizepräsident Luis de Guindos steuert die Notenbank auf eine erste Senkung auf ihrer Zinssitzung Anfang Juni 2024 zu. Das sehen auch die Ökonomen so, alle 82 von Refinitiv befragten Volkswirte gehen davon aus, dass die EZB am 6. Juni (nach Redaktionsschluss) den Einlagensatz um 0.25 Prozentpunkte auf dann 3.75% nach unten setzen wird. Zudem rechnet eine Mehrheit damit, dass die Notenbank nach dem Juni noch im September und im Dezember den Geldhahn weiter auftreiben wird. «Zinssenkungen und der damit vermutlich günstigere Euro würden nicht nur der deutschen Industrie etwas Luft zufächeln», konstatiert Christian Gattiker von Julius Bär. Und auch wenn die Verbraucherpreise im Mai in der 20-Länder-Gemeinschaft um 2.6% binnen Jahresfrist überraschend stark gestiegen sind, Volkswirte 2.5% auf dem Zettel, dürfte dies der Zinswende keinen Abbruch tun. «Die EZB wird am kommenden Donnerstag den Leitzins um 25 Basispunkte ungeachtet der Inflationsentwicklung im Mai senken», sagt Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank und fügt hinzu: «Das ist gewissermassen in Stein gemeisselt».
Von Rekord zu Rekord
Während sich die Wirtschaft noch in Bodennähe befindet, schnuppert die Börse längst Höhenluft. Der Deutsche Aktienindex eilt in diesem Jahr von einem Hoch zum nächsten und hat mittlerweile sogar die 19’000er-Marke ins Visier genommen. «Besonders am aktuellen Höhenflug des DAX lässt sich ablesen, wie deutlich sich Unternehmen von der heimischen Wirtschaftsschwäche abkoppeln können», sagt Alexander Dominicus, Portfoliomanager bei MainFirst Asset Management und führt weiter aus: «Die deutschen Unternehmen haben schon so manche Krise gemeistert und sich erschwerten Bedingungen bereits des Öfteren erfolgreich angepasst».
Auch Julius Bär-Experte Christian Gattiker glaubt nicht, dass der deutsche Aktienmarkt mit einem Plus von rund einem Zehntel schon viel Optimismus vorwegnimmt. Der MDAX drehte seit Jahresbeginn sogar nur eine Nullrunde. Er sieht beispielsweise in Siemens, der Deutschen Post und Infineon drei Favoriten für die Zukunft. Die Ratinggesellschaft Morningstar bescheinigt letztgenanntem Chiphersteller ebenfalls grosses Nachholpotenzial. «Wir sind besonders optimistisch was die Chancen des Unternehmens im Bereich der Automobil-Halbleiterchips angeht, die über 40% des Umsatzes ausmachen», schreibt Brian Colello, Stratege für Technologieaktien bei Morningstar. Den fairen Wert der Aktie taxiert Morningstar auf Euro 117, das ist rund das Dreifache des aktuellen Kurses.
Auch das bei Refinitv aufgeführte Konsensrating lautet bei Infineon auf «Buy». Dies gilt ebenso für Siemens und der Deutschen Post, welchen den Analysten 14% respektive 22% Kurspotenzial einräumen. Die aktuelle Bestnote bekommt die Aktie von der Deutschen Telekom. Der Titel konnte im laufenden Jahr dem DAX-Anstieg nicht folgen und trat seit Silvester auf der Stelle. Die Experten sehen im Schnitt aber ein Potenzial von knapp einem Viertel. Wir haben eine Reihe von Produkten herausgesucht, mit denen sich die Deutschland-Karte sowohl konservativ als auch spekulativ spielen lässt.