Das Fundamentalumfeld ist entscheidend
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Justin Thomson, Head of International Equity und Co-Leiter Global Equity
Welche Chancen bieten die Aktienmärkte angesichts der möglichen Abschwächung des Gewinnwachstums und steigender Zinsen?
Der abrupte Anstieg der Anleihenrenditen ist für die Kursverluste an den globalen Aktienmärkten im ersten Halbjahr verantwortlich. Im zweiten Halbjahr dürfte die Entwicklung der Aktienmärkte von den Aussichten für die Unternehmensgewinne und ihr Wachstum getaktet werden.
Nachdem sie fast das gesamte Jahr 2021 deutlich im negativen Bereich verharrt, so Page, drehte die reale, d.h. inflationsbereinigte Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen (gemessen an der 10-jährigen TIPS-Rendite) Ende April in positives Terrain. Abbildung 3 (linke Grafik) zeigt den Effekt auf die Bewertungen von US-Aktien, die sich auf die Mitte ihrer jüngsten historischen Spanne zubewegt haben.
Der Schwerpunkt der Eigenkapitalrisiken verlagert sich von den Zinsen auf das Gewinnwachstum
(Abb. 3) S&P 500-Index-Forward-KGV vs. Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen und geschätztes Wachstum des Gewinns je Aktie für 2022 in USD
Angesichts der steigenden Wachstumssorgen verlagert sich der Fokus, so Page, auf die „G“-Komponente des KGV. „Alle fragen sich, wann die nächste Hiobsbotschaft eintrifft.“
Obwohl sich die Gewinndynamik vieler Märkte außerhalb der USA im ersten Halbjahr abgeschwächt hat, ist das Wachstum des Gewinns je Aktie in den USA erstaunlich stabil geblieben (Abbildung 3, rechte Grafik). Doch Page zufolge wird diese starke Dynamik nicht von Dauer sein. „Ich denke, dass die Gewinne in den USA in der zweiten Jahreshälfte aufgrund des schwächeren Wirtschaftswachstums sinken werden,“ so die Prognose von Page.
Eine Entspannung entlang der Lieferketten könnte die Gewinne ebenfalls beeinflussen, wenn auch nicht unbedingt positiv, meint Page. Der gestiegene Absatz von Produkten könnte zwar Umsatz und Erträge steigern, gleichzeitig aber auch die Preissetzungsmacht und die Gewinnmargen schmälern.
Dominierende Sektoren und Anlagestile
In der Vergangenheit kamen ungünstige Rahmenbedingungen für die Unternehmensgewinne tendenziell eher dem Growth-Stil zugute, der weniger stark durch Konjunkturabschwünge belastet wird. Thomson zufolge könnte es dieses Mal aufgrund der mittlerweile hohen Gewichtung des Technologiesektors im Universum der Wachstumswerte anders kommen.
„Die Pandemie hat der Digitalisierung kräftigen Schub verliehen, so dass wir in der zweiten Jahreshälfte einige sehr kräftige Gewinnschübe gegenüber 2021 sehen werden,“ so Thomson. „Darüber hinaus erkennen wir einige spätzyklische Effekte, von denen die Tech-Branche belastet werden könnte, wie Fachkräftemangel und Lohninflation.“
„Konsumorientierte Technologieplattformen wie Streaming-Dienste könnten ebenfalls mit schwächeren Konsumausgaben zu kämpfen haben“, fügt er hinzu.
Am Markt ändern sich offenbar die Dominanten. Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass diese Zyklen in der Regel lange dauern.
Diese Faktoren deuten darauf hin, dass die sich wiederholenden Stilrotationen seit der Erholung von der Pandemie den Value-Stil begünstigt haben. „Am Markt ändern sich offenbar die Dominanten,“ so Thomson. „Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass diese Zyklen in der Regel lange dauern.”
In China könnten Anlagechancen entstehen
„Da der Morgan Stanley Capital International (MSCI) China Index Ende Mai seit seinem Höchststand Anfang 2021 um fast 50% abgesackt ist, sind die Bewertungen chinesischer Aktien sehr attraktiv geworden,“ kommentiert Thomson. Die „Null-Covid“-Politik der chinesischen Regierung ist jedoch eine gewaltige Hürde für die Erholung des Wachstums.
“China hat die Möglichkeit, Konjunkturpakete zu schnüren,“ stellt Thomson fest. „Doch solange die Lockdown-Regelungen gelten, greifen Anreize nicht. Das käme dem gleichzeitigen Treten von Gas- und Bremspedal gleich.“
Wie effizient die chinesische Politik das Wachstum in der zweiten Jahreshälfte ankurbeln kann, ist noch ungewiss, so Thomson. Neben dem Coronavirus könnten sinkende Immobilienwerte und Zahlungsausfälle die Konjunkturmaßnahmen unterminieren.
Allerdings, so Thomson, verfügt China in einem Umfeld, in dem viele Zentralbanken in Industrieländern zur Inflationsbekämpfung den Liquiditätshahn zudrehen und die Regierungen mit hohen Haushaltsdefiziten konfrontiert sind, immerhin zumindest über Spielraum für die Förderung seines Wachstums.
Ein anderer entscheidender Faktor für chinesische Aktien könnte im zweiten Halbjahr das regulatorische Umfeld sein, meint Thomson, einschließlich der Strategie Pekings in Bezug auf die inländischen Betreiber von Technologieplattformen und die Reaktion der Regierung in Bezug auf das mögliche Delisting chinesischer „American Depositary Receipts“ (ADR) von ausländischen Börsen.
Thomson glaubt, dass die Regierung angesichts des bevorstehenden 20. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im November wohl einen marktfreundlicheren regulatorischen Kurs einschlagen wird. „Dieser regulatorische Zyklus war besonders langwierig und gravierend,“ meint er. „Wir glauben jedoch, dass sich diese Gemengelage nunmehr verbessern wird.“
Thomson wagt angesichts der konsequenten Überperformance des US-Marktes im letzten Jahrzehnt noch keine Prognose bezüglich einer Verlagerung der Führungsposition auf Nicht-US-Aktien in der zweiten Jahreshälfte. Sollte die im ersten Halbjahr verzeichnete Aufwertung des US-Dollar jedoch anhalten und der Technologiesektor weiter unter Druck stehen, könnte sich die relative Performance der Aktienmärkte außerhalb der USA zumindest verbessern, meint er.