Die Inflation wird dauerhafter sein als erwartet
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Serge Nussbaumer, Chefredaktor
Herr d’Orsay, wie beurteilen Sie die jüngsten Ankündigungen der FED und der EZB: «Tapering is not Tightening». Geht Amundi davon aus, dass die Leitzinsen in den USA und in Europa im kommenden Jahr erhöht werden?
Wir erwarten, dass die EZB weiterhin zurückhaltend agiert und die historisch hohen Anleihekäufe fortsetzt. So wird bereits für Dezember ein neues Anleihekaufprogramm erwartet. Zinserhöhungen sehen wir nicht vor 2024. Solange die Eurozone wirtschaftlich so stark fragmentiert ist, befindet sich die EZB in der Zwickmühle und kann die Zinsbelastung der hoch verschuldeten Länder nicht nach oben treiben. Ausserdem ist die Reihenfolge der EZB-Massnahmen klar vorgezeichnet: Bevor die EZB die Leitzinsen anhebt, sollten die Ankaufprogramme beendet werden.
Anders die Fed: Wir rechnen damit, dass die US-Notenbank ihre Geldpolitik normalisieren wird – allerdings weniger aggressiv als es der Markt derzeit einpreist. Die erste Anhebung der Fed-Fund-Rates erwarten wir für Ende 2022, gefolgt von einer stufenweisen Straffung. Die Fed befindet sich heute jedoch in einer schwierigen Lage: Die Inflation ist definitiv viel höher als von Zentralbanken und Anlegern ursprünglich erwartet. Jedoch sind Zinserhöhungen als Reaktion auf einen Angebotsschock kontraproduktiv. Die Zinsen in einem Umfeld hoher Inflation nicht anzuheben, birgt jedoch die Gefahr, zu weit «hinter der Kurve» zurückzubleiben.
Die Renditekurve in den USA hat sich in jüngster Zeit abgeflacht. Was sind die Gründe für diese doch eher überraschende Entwicklung?
Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens haben sich die kurzfristigen Zinserwartungen aufgrund der restriktiveren Haltung der Zentralbanken und der steigenden Inflation stark nach oben korrigiert. Zweitens sind den langfristigen Anleiherenditen durch mehrere Faktoren Grenzen gesetzt – vor allem durch die deutlich getrübten Aussichten für das globale Wirtschaftswachstum infolge von Corona und mit Blick auf China, sowie die rekordhohe Verschuldung. Drittens hatten verschiedene Marktteilnehmer hohe Steepening- und Carry-Positionen. Sie waren gezwungen, diese Positionen aufzulösen, was die Verflachung der Renditekurven noch verstärkte.
Bis jetzt wird der Anstieg der Infla-tion von den Zentralbanken als transitorisch angesehen. Teilen Sie diese Ansicht?
Die Inflation wird dauerhafter sein als erwartet. Wir haben es mit einem Regimewechsel zu tun, der mit Einschränkungen in den Lieferketten, einem Rückgang der Globalisierung, höheren Steuern und einer Neuausrichtung der Politik zugunsten des Produktionsfaktors Arbeit einhergeht. Hinzu kommen die Herausforderungen, die die Energiewende mit sich bringt. Die Zentralbanken – insbesondere die Fed und die Bank of England – beginnen sich zu fragen, wie lange «vorübergehend» tatsächlich ist, nachdem die Inflation monatelang weit unter den Erwartungen lag und alle Komponenten, einschliesslich Wohnungsbau und Löhne, heiss liefen.
«Die Fed befindet sich heute jedoch in einer schwierigen Lage.»
Welche unbekannten Faktoren bereiten den grössten Grund zur Sorge?
Die nicht mehr verankerte Inflationserwartung zählt aktuell zu den Hauptrisiken, da die Zentralbanken mit dem Narrativ einer vorübergehenden Inflation spielen. Inflationserwartungen gelten als «verankert», wenn Marktakteure langfristig die Inflationsraten erwarten, die der Definition von Preisstabilität entsprechen. Die Zentralbanken haben den Schlüssel für den Konjunkturzyklus und für das Schicksal von Risiko-Assets, einschliesslich Unternehmensanleihen, in der Hand. Daher ist ein Politikfehler von Zentralbanken das, was wir am meisten fürchten.
Welche Rolle spielt China gegenwärtig auf den Anleihenmärkten?
Mit chinesischen Staatsanleihen können Anleger in einer Welt mit niedrigen oder negativen Zinsen positive Realrenditen erwirtschaften. Daher sind sie für ein globales Obligationen-Portfolio sehr interessant. Die reale Zinsdifferenz zu 10-jährigen Staatsanleihen liegt bei über 3%. Weitere Argumente für chinesische Staatsanleihen sind das Diversifizierungspotenzial, die begrenzte Währungsvolatilität und die, im Vergleich zur unorthodoxen Fed-Politik, orthodoxe Haltung der People’s Bank of China.
Sollten Investoren Staatsanleihen oder lieber Unternehmensanleihen den Vorzug geben?
Auf der Suche nach Rendite sollten Anleger auf Unternehmensanleihen, kurze Durationen und Segmente setzen, die von der wirtschaftlichen Erholung profitieren und zusätzliche Rendite und Schutz vor Inflation bieten. Dazu zählen beispielsweise globale und europäische nachrangige Anleihen. Bei Staatsanleihen sollten sie nach Renditechancen bei europäischen Peripherie- oder Schwellenländeranleihen Ausschau halten.
Was sind gegenwärtig die attraktivsten Regionen und Segmente für Anleiheninvestoren?
Wir favorisieren Unternehmensanleihen – beispielsweise von Finanztiteln. Dabei suchen wir unter anderem nach BBB-Titeln, die im Vergleich zu Papieren mit einem A-Rating ein besseres Risiko-Ertrags-Profil bieten. Wir meiden Unternehmen, die ihre Verschuldung erhöhen oder durch Fusionen und Übernahmen Werte vernichten könnten. Zurückhaltend sind wir ausserdem bei US-Treasuries sowie bei Obligationen der europäischen Kern- und Semi-Kernländer. Dabei hat die jüngste, weniger akkommodative Haltung der Zentralbanken unsere Ansicht bestätigt. Anleihen der Euro-Peripherie, wie zum Beispiel die Italiens, werden durch die besseren Wirtschaftsaussichten gestützt.
«Mit chinesischen Staats- anleihen können Anleger in einer Welt mit nied- rigen oder negativen Zin-sen positive Realrenditen erwirtschaften.»
Bieten inflationsgebundene Anleihen weiterhin Aufwärtspotential?
Der 5-Jahres-Inflationsswap könnte kurzfristig weiter steigen, bis die Inflation ihren Höhepunkt erreicht, bietet aber nur einen begrenzten Wert. Längerfristige Inflations-Breakeven bieten mehr Wert. Der 5-Jahres-Inflations-Breakeven in den USA hat mit 3.3% einen historischen Höchststand erreicht. Allerdings liegen die längerfristigen Inflationserwartungen, gemessen an den 5-Jahres-Inflationsswaps, nur bei 2.5%. Wir erwarten, dass sich die Inflation im Durchschnitt über dem Vor-Pandemie-Niveau einpendeln wird.
Welches Produkt der Anlageklasse Anleihen aus dem Hause Amundi bietet Ihrer Meinung nach die besten Aussichten in den kommenden zwölf Monaten?
Angesichts der höheren Inflation und des geringeren Wachstums sollten Anleger Aggregate-Strategien, also diversifizierte und flexible Strategien, in Betracht ziehen, die Durations-Positionen, Unternehmensanleihen und Devisen flexibel einsetzen können. Darüber hinaus sind nachrangige Anleihen attraktiv, um mit der höheren Inflation umzugehen. «Last but not least» glauben wir, dass 2022 ein entscheidendes Jahr auf dem Weg zur Energiewende sein wird. Soziale und Green Bonds werden für die Finanzmärkte von entscheidender Bedeutung sein, weshalb wir weiterhin an diese Lösungen für Anleger glauben. Konkret sehe ich zum Beispiel gute Chancen für den Amundi Funds European Subordinated Bond ESG (LU1328848970) oder das globale Pendant, den Amundi Funds Global Subordinated Bond ESG (LU1883334515).
Als ehemaliger Rohstoffhändler haben Sie sicher noch einen Draht zu dieser Anlageklasse. Für welchen Rohstoff sehen Sie persönlich das grösste Gewinnpotential bis Ende 2022?
Aussichtsreich sind aus meiner Sicht Zinn, Erdgas und Gold. Zinn erfährt einen Schub durch die Energiewende. Gleichzeitig besteht ein enormes Angebots-Nachfrage-Ungleichgewicht. Erdgas dürfte vor allem in der ersten Jahreshälfte aufgrund saisonaler Faktoren und des Nachfragedrucks für den globalen Elektrifizierungsprozess überdurchschnittlich gut abschneiden. Gold könnte in der zweiten Jahreshälfte mit Blick auf den Konjunkturzyklus, Inflationssorgen und die nach wie vor zurückhaltenden Zentralbanken wieder zu einer starken Absicherung werden.
Vielen Dank!
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Amaury d’Orsay ist Head of Fixed Income bei Amundi. Er kommt von Credit Agricole CIB, wo er seit 2018 Global Head of Financial Institutions Sales for Global Markets war. Zuvor war er Global Head of Rates Trading bei Société Générale CIB, wo er seit 2008 weltweit alle Cash- und Derivatehandelsaktivitäten verantwortete. Amaury kam 1997 als Anleihehändler zur Société Générale und wurde dann Leiter des Euro Government Bond Trading Desks. Er begann seine Karriere in New York als Rohstoffhändler bei Louis Dreyfus.