

Europa stellt sich seinem Schicksal
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Jean-Christophe Rochat
CIO
Banque Heritage
Die Europäische Union scheint endlich aus der Talsohle herauszukommen und sich langsam zu erholen. Es zeichnet sich eine Aufholjagd für Anlage in Europa ab.
Viele angelsächsischen Anleger haben sich bei den Turbulenzen in den USA die Finger verbrannt. Sie haben sich in den letzten Wochen wieder den europäischen Märkten zugewandt. Es zeichnet sich eine Aufholjagd für europäische Vermögenswerte ab. Aber werden die europäischen Entscheidungsträger in der Lage sein, diese Gelegenheit zu ergreifen?
Tiefgreifende Bewegung der tektonischen Platten
Das ist eine Untertreibung: Seit dem Ende der Pandemie und des Krieges in der Ukraine bewegen sich die Dinge immer schneller. Und das gilt insbesondere für die Europäische Union. Das deutsch-französische Paar, die historische Säule des alten Kontinents, scheint zu zerfallen. Und die Ursache liegt nicht nur in den wiederkehrenden, aber reversiblen Spannungen zwischen den beiden Ländern, sondern vielmehr in ihren langjährigen Problemen.
Das deutsche Wirtschaftsmodell hat sich in den letzten Jahren drastisch verschlechtert. In Frankreich verschärft sich die politische und institutionelle Krise, und das Modell des Wohlfahrtsstaates steht unter grossem Druck. Die Ankunft der Trump-Administration mit ihrer störenden, gegen das Establishment gerichteten Haltung hat diese Dynamik noch verstärkt. Die Gefahr der Marginalisierung ist deutlich spürbar, insbesondere durch die Spannungen mit der Nato, die Androhung von Zöllen und die Friedensverhandlungen in der Ukraine.
In den 1940er Jahren theoretisierte der tschechische Wirtschaftswissenschaftler J. Schumpeter das Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ für Unternehmen: Innovation führt zu einer Neuorganisation der Produktionsmethoden, indem sie die etablierte Ordnung umstösst. Dieses Konzept erhält heute mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz seine volle Bedeutung. Während die USA die künstliche Intelligenz eifrig fördern, tut sich Europa schwer damit. Statt ihre Möglichkeiten zu nutzen, versuchen sie sie zu regulieren. Die Kluft zwischen den beiden Ländern vergrössert sich trotz der Bemühungen von Emmanuel Macron, Frankreich in den Mittelpunkt dieser Dynamik zu stellen.
Umwandlung der europäischen Führung
Die Schumpetersche Analogie lässt sich auch auf die Geopolitik anwenden: Das Auftauchen von Trump 2.0 markiert einen radikalen Wendepunkt in den internationalen Beziehungen. In Europa ebnet die Erosion der deutsch-französischen Partnerschaft den Weg für den Aufstieg von Giorgia Melonis Italien und Polen, während die Rolle von Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, gefestigt wird.
Das Thema der gemeinsamen Verteidigung, das früher ein Tabu war, ist heute zu einer Priorität geworden. Mit der Verabschiedung des Strategiekompasses 2022 wurde ein Fahrplan für Sicherheit und Verteidigung aufgestellt, der die Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds zur Finanzierung multilateraler militärischer Projekte ermöglichte. Die Militärausgaben sind nun im europäischen Haushalt enthalten.
Die neue Regierung in Deutschland wird besonders aufmerksam verfolgt. Eine grosse Koalition könnte die berühmte Schuldenbremse aufweichen und den Weg für die Beseitigung von Hindernissen für den grossen Investitionsplan Draghi/Letta 2024 ebnen, der die europäische Wettbewerbsfähigkeit stärken soll.
Kurzfristig im Rampenlicht
Die alten nationalistischen Dämonen sind jedoch noch nicht ganz verschwunden. So blockiert Deutschland derzeit das Übernahmeangebot der Unicredit für die Commerzbank, was von einer tief verwurzelten Abneigung gegen jede transnationale Bankenkonzentration zeugt. Die Schaffung einer echten europäischen Bankenunion könnte jedoch das Entstehen riesiger Finanzkonzerne ermöglichen, die es mit den US-Titanen aufnehmen können. Doch vorerst bleibt dieses Ideal eine Fata Morgana.
An einer anderen Front scheint die EU nach dem Brexit wieder engere Beziehungen zu Grossbritannien zu knüpfen, insbesondere im Bereich der Verteidigung. Die Regierung Starmer zeigt sich weniger widerspenstig zeigt als ihre Vorgänger und plant den Wiederaufbau einer solideren Beziehung zur EU, die über rein militärische Fragen hinausgeht. Eine Dynamik, die die Beziehungen zwischen den beiden Seiten des Ärmelkanals verändern könnte.
Ein entscheidender Bereich bleibt jedoch ungelöst: die Energie. Gegenwärtig fehlt es der EU noch an einer kohärenten gemeinsamen Energiepolitik. Deutschland hat seine Kernkraftwerke abgeschaltet, während andere Länder ihr Engagement für diese Energiequelle verstärken. Die Niederlande haben ihre riesigen Erdgasfelder stillgelegt. Während der Pandemie konnte Europa dank der Einfuhren von US-Flüssigerdgas (LNG) zwar eine gewisse Atempause einlegen. Aber zu welchem Preis?
Vor diesem Hintergrund scheint Europa einen Rückschritt zu machen. Die ständig steigenden Energierechnungen belasten die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen schwer. Die EU steht an einem kritischen Scheideweg: Wie lange wird sie sich noch auf Übergangslösungen verlassen können? Ist es noch Zeit, den Sprung zu wagen und den Rückstand zu vermeiden?