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Warten auf den Einschlag 

02.03.2024 5 Min.
  • Thomas Wulf

Wie die Europawahlen 2024 das Brüssler Parlament verändern könnten.

Fünf Jahre sind schon wieder vorbei. Man schrieb 2019, als Ursula von der Leyen nach den letzten Wahlen zum EU-Parlament überraschend den Kommissionsvorsitz übernahm und sich anschickte, mit dem Green Deal die politische Landschaft in den Staaten der EU umzukrempeln. Recht vieles hat man in dieser Hinsicht auf Kurs gebracht, wobei dunkle Wolken schon zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts am Horizont aufgezogen waren. 

Um Europa herum lodert das Feuer geopolitischer Instabilität. 

Schlägt man von Osten einen Bogen nach Süden, sieht man nicht nur den sich nach der
Kriminvasion vielleicht schon abzeichnenden Ukrainekrieg, sondern auch den schwelenden
Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, den ewig andauernden Bürgerkrieg in Syrien,
den völlig unregierbar gewordene Libanon, den gerade aufgeflammten Krieg im Gazastreifen
und am Ende der Linie das von Warlords beherrschte Libyen. In all diesen Auseinandersetzungen betrachten sich die alten regionalen Grossmächte, allen voran Türkei und Russland, in ihren Interessen betroffen, soweit sie nicht wie letzteres ohnehin selbst Akteure auf dem Schlachtfeld sind. Die NATO, von Emmanuel Macron noch vor einigen Jahren für hirntot erklärt, ist durch den Ukrainekrieg und die Neuaufnahme Finnlands und (bald) Schwedens zur de facto Schutzmacht ihrer europäischen Mitgliedstaaten geworden. Sie hält bislang erfolgreich durch pure Abschreckung den potenziellen Aggressor im Osten in Schach. Die EU konzentriert sich vor allem auf das Sanktionsmanagement, die Koordinierung von Hilfeleistungen und die Anschaffung von Waffen und Munition.

Gleichzeitig aber ist die EU bzw., genauer das europäische Kernland, Schweiz und das Vereinigte Königreich vollends mit eingeschlossen, aber auch gerade wegen der obigen Situation als Fels in der Brandung von weithin sichtbar. Europa bleibt ganz natürlich Ziel der Einwanderung all derer, die um den Kontinent herum an Leib und Leben bedroht sind oder für sich und ihre Familien da, wo sie sind, keine Zukunft mehr sehen. Dieser Druck auf die Aussengrenzen der EU hält seit Jahren unvermindert an. Es war bislang meist nur eines von vielen aktuellen Themen in den nationalen Wahlkämpfen. 

Die Steuerung der Zuwanderung könnte aber in den Europawahlen zu dem alles andere verdrängenden Sujet werden. 

Der kürzliche Sieg des holländischen PVV-Chefs Geert Wilders, über den quasi seiner Errungenschaften als vormals zuständiger Kommissar mit allen grünen Meriten versehenen Frans Timmermans, ist ein sehr eindrücklicher Beleg für diesen Stimmungswandel. Dem Wähler war es augenscheinlich wichtiger, ein Zeichen zu setzen, dass statt Absenkung des Kohlendioxid-Ausstosses der holländischen Landwirte (Wahlprogramm Timmermans) viel-mehr etwas zu tun sei gegen die Transitrolle, die Holland als Verkehrsknotenpunkt für illegale Einwanderung spielt. Gleichermassen bedrohlich wird das Sicherheitsproblem um Rotterdam gesehen, dessen Hafen aufgrund des mit dem Ukrainekrieg unzugänglich gewordenen Odessa zum neuen Haupteinfallstor für den Schmuggel harter Drogen nach Europa geworden ist. Ein ähnlicher Stimmungswechsel wie in Holland ist auch in anderen Ländern der EU nicht ausgeschlossen. Nächster Kandidat wäre vielleicht Schweden, das seit zwei Jahren eine einzigartige Mordwelle, wohl vor allem aus dem kurdischen Milieu seiner Grosstädte kommend, verzeichnet. Aber auch in anderen Ländern, allen voran in den grossen Flächenstaaten Deutschland und Frankreich, dreht sich langsam der Wind. Die Wahlprognosen für AfD und Rassemblement National sehen bei ersterer vor allem mit Blick auf die Direktmandate aus wie die Aktienmärkte vor 2008. 

Derzeit treibt daher auch jedermann in Brüssel die Frage um, wie gross der Zugewinn von Parteien mit extremen Positionen im kommenden Jahr nun ausfallen wird. Die Prognosen sind wie immer mit Vorsicht zu geniessen. Derzeit geht man davon aus, dass aufseiten des linken Spektrums massive Stimmverluste des grünen Lagers (bis zu 40%) einhergehen mit entsprechenden Stimmengewinnen der linksextremen Parteien. Für den vom Pult aus gesehen rechten Rand des Hauses wird in den beiden relevanten Fraktionen ECR und ID nach Politico-Umfragen ein Zugewinn von 38% und 24% erwartet. Insgesamt würde dann der Anteil der Parteien mit «extremen» Positionen im Hohen Hause Europas mit 705 Sitzen in 2024 um 8% klettern und den Gesamtanteil dieser Parteien auf 31% steigen lassen. Dies ist natürlich nicht wenig, liegt aber, da linkes und rechtes Lager ja selten vereint auftreten, immer noch eher noch im Bereich Debattenbelebung als Umsturz.

Man darf auch nicht vergessen, dass man sich im Europäischen Parlament an die vielen Schattierungen von Europaskeptikern, -kritikern und -hassern gewöhnt hat. Angesichts der Tatsache, dass eine gesunde Skepsis gegenüber vielen Ideen aus der Regulierungsmaschine der Kommission auch durchaus angebracht ist und ihre Abwesenheit von vielen Beteiligten (zumindest stillschweigend) als Verlust empfunden würde, finden sich diese Stimmen zum einen ja nicht nur in den politisch extremen Lagern. Zum anderen hat das Europäische Parlament in den Jahren der Zugehörigkeit des Vereinigten Königreiches eine Unzahl an rhetorischen (und dann und wann auch über das Verbale hinaus gehende) Zumutungen einiger entsandter Albions hinnehmen müssen. Als in den Jahren 2014-2019 die Tories David Camerons noch Teil der ultrakonservativen ECR-Fraktion waren, lag dementsprechend der Anteil extremistischer/europaskeptischer Parteien mit 27% bereits recht hoch, um sich erst in der laufenden Legislatur und nach dem Brexit bei 23.5% einzupegeln. 

Allen Unkenrufen über das Erstarken extremistischer Parteien zum Trotz hat selbiges, so es in gewissem Rahmen bleibt, vielleicht aber auch sein Gutes. Je stärker man wird, desto mehr bekommt man auf den Tisch. Vielleicht erklärt dies ja das etwas überraschende kürzliche Auftreten von drei Abgeordneten der Lega Nord, die im höchst strittigen Dossier der europäischen Retail Investment Strategie (siehe letzte Kolumne) mit technisch detaillierten Änderungsanträgen zur PRIIPs-Verordnung von sich reden machten. Die oft dröge Beschäftigung mit derlei Themen schärft dann vielleicht auch aufseiten des/der jeweiligen Abgeordneten den Blick und zwingt zur Versachlichung der Debatte. Anders herum betrachtet wird auch ein Schuh draus. Dem an Hinterbänklern traditionell nicht armen Europäischen Parlament kann jeglicher hinzukommende Sachverstand zu technischen Fragen eigentlich nur guttun.

Es grüsst daher leicht besorgt, aber unvermindert zuversichtlich aus Brüssel

Ihr Thomas Wulf   

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Der Artikel spiegelt allein die persönlichen Ansichten des Autors.

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