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payoff Trading Desk

Exodus am Bosporus: Aktienmarkt Türkei steht Kopf

20.07.2016 5 Min.
  • Martin Raab

Der einstige Musterknabe unter den Emerging Markets ist spätestens seit Montag dieser Woche auf der Verkaufsliste vieler Investoren. Dabei gibt es einige Krisenprofiteure zu Rabattpreisen zu kaufen – oder gleich den ganzen Index. Nervenstarke Investoren nutzen das Chaos für den selektiven Einstieg.

Galgenstimmung und vielerorts buchstäbliche Funkstille herrscht seit wenigen Tagen am Bosporus. Die staatliche Medienaufsicht RTÜK entzog 24 Radio- und Fernsehstationen, darunter auch Wirtschaftsmedien, quasi über Nacht die Lizenz. Querdenker und liberale Kräfte sollen ins Leere laufen. Umso lauter ist die Volksstimme zum Thema Todesstrafe geworden. Zwei Tage nach dem dilettantischen Militärputsch hat der politische Führer Erdogan wohlwollend zur Kenntnis genommenen, dass dieses Thema schlagzeilenträchtig in sein zunehmend totalitäres Machtregime passt. Solche Headlines kommen bei Investoren denkbar schlecht an. «Alleine in den ersten sechs Monaten dieses Jahres flossen EUR 50 Milliarden aus dem türkischen Aktienmarkt ab. Das entspricht rund 8% aller Anlagen in diesem Sektor seit Jahresanfang.» konkretisiert Fondsmanager Gökhan Kula, CIO beim Frankfurter Investmenthaus MYRA Capital AG die Dimension der Kapitalflucht. Sein Unternehmen ist Spezialist für Türkei-Investments. «Wie so oft, gibt es trotz der aktuellen Kapriolen, auch stabile Perlen für Türkei-Investoren. Anleger mit Risikobereitschaft finden durchaus interessante Titel» so Kula weiter.

Wahlgeschenke sorgen für Konsum

So zurückhaltend die internationalen Investoren in punkto Türkei derzeit sind, so gross ist die Popularität der regierenden Volkspartei AKP. Grund für die überschwängliche Euphorie innerhalb weiter Teile der türkischen Bevölkerung ist auch monetärer Natur: Unter Federführung von Machthaber Erdogan wurde der Mindestlohn seit 2015 stets erhöht – zuletzt im Januar 2016 um ein Drittel auf TRY 1‘300 (CHF 390). «Solche Wahlgeschenke halfen die Wachstumsraten der Türkei stabil positiv zu halten. Insbesondere Konsumgüterhersteller profitieren vom anziehenden Mindestlohn überaus stark» analysiert Fondsmanager Kula.

Unbekannte Qualitätstitel für Risikobewusste

Der Hau-Drauf-Politikstil in der Türkei liess einige Sektoren schwer leiden, andere Bereiche schreiben nach wie vor gute Zahlen, sind hochprofitabel, werden aber nur von Insidern angefasst. So ist der Aktienkurs der Akbank (in Deutschland u.a. Frankfurt und Stuttgar kotiert) durch die jüngsten Tumulte stark unter die Räder gekommen. Grösster Aktionär ist die Familienholding Sabanci, im Lager der institutionellen Investoren sind u.a. Vanguard, Lazard und Aberdeen Asset Management an der Akbank beteiligt. Die Bank, welche Indexmitglied in den türkischen Leitindizes BIST100 und im MSCI Turkey Index ist, hat eine stabile Dividendenpolitik (aktuell 2.20%), solides In- und Auslandsgeschäft und ist im 5-Jahres-Vergleich deutlich am Boden. Anderes Beispiel ist die religöse Einzelhandelskette BIM Birleşik Mağazalar, welche aktuell 5‘160 Filialen in der Türkei hat. Der national-konservative «ALDI der Türkei» hat eine halbe Milliarde Cash auf dem Konto und prosperiert seit Jahren dank der stabil wachsenden Mittelschicht. Nettoumsätze und Marge sind in den letzten fünf Quartalen kontinuierlich gestiegen. Das nationalistische Umfeld passt dabei gut ins Konzept – BIM gilt als erste Wahl unter streng gläubigen Muslime.

Aktienanlagen, ETFs und Strukis

Tradition und Moderne vereint dagegen in perfekter Weise ein in Europa nahezu unbekannter Milliardenkonzern aus der Türkei: Ülker Biskuvi Sanayi. Die Aktien des expansiven Süss- und Backwarenproduzenten haben bis dato keinerlei Kursschwäche gezeigt. Im Gegenteil: Anleger haben nachgekauft. Der Milliardenkonzern mit knapp 50% Marktanteil allein in der Türkei gilt ebenfalls als defensive Perle, wenn auch eine weltlichere als BIM. Was nur Insider wissen: Der Mehrheitsaktionärin von Ülker, Yildiz Holding, gehört die Schokolademarke Godiva, welche einen Jahresumsatz von rund USD 800 Millionen erzielt und auf massivem Expansionskurs – insbesondere in Asien – ist. Anleger, die jetzt weniger auf Stockpicking setzen möchten, finden im iShares MSCI Turkey UCITS ETF (IE00B1FZS574) eine perfekte Möglichkeit direkten Zugang zu «Corporate Turkey» zu bekommen. Der MSCI Turkey Index ist recht finanzlastig (47%), nicht zyklische Konsumaktien stellen jedoch die zweitgrösste Aktienposition mit rund 15%. Der Defensiv-Case geht also auch mit diesem börsenkotierten Indexfonds auf. Einen der besten Tracker auf den türkischen Aktienmarkt (Dow Jones Turkey Titans 20 Index) hat die BNP Paribas im Angebot: TURKE, dessen Spread mit 1.8% der Marktlage entsprechend erweitert ist. Der Tracker ist US-Dollar kotiert.

Türkische Lira im Auge behalten

So verlockend die Schnäppchenjagd am türkischen Aktienmarkt in diesen turbulenten Tagen sein mag, so klar muss das Währungsrisiko einkalkuliert werden. Die türkische Lira ist aktuell volatil und zu konkreten Prognosen wagt sich aktuell kein FX-Stratege auf die Äste. Ob nun im «Risikobild Türkei» die Todesstrafe tatsächlich samt Verfassungsänderung dazu kommt ist aktuell schwer abzuschätzen. Das türkische Parlament müsste mit Dreifünftelmehrheit dafür stimmen. Anschliessend muss das Volk per Referendum zustimmen. Letzteres könnte eine neuerliche Zerreissprobe für die türkische Gesellschaft werden und neue Volatilität mit sich bringen. Bis dahin gilt es bei Schwarztee (von BIM) und Keksen (von Ülker) abzuwarten. Unterdessen kommt bei Fondsmanager Kula keine Langeweile auf. Zahlreiche Anrufe quer aus Europa erreichen sein Büro seit Montag morgen. «Gerade Vermögensverwalter und Family Offices mit Risikobudget sind jetzt natürlich stark an diesem Thema interessiert. Ein Türkei-Portfolio macht derzeit aber nur mit aktivem Risikomanagement und direkter Marktnähe, sprich einem zuverlässigen Wertschriftenbroker mit Zugang zur Börse Istanbul, Sinn» so sein Fazit.

 

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