Strategisches Wunschdenken
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Thomas Wulf
Wie der Mangel an sachlicher Tiefe die EU-Kommission auf das politische Glatteis führt.
Politik ist faszinierend. Sie ist das Drängen nach Diskussion und, idealerweise, nach Entscheidung. In einer Demokratie bringt sie vom Prinzip her stets, wenn auch in der Besetzung sich ständig ändernd, Experten, Betroffene, Befürworter und Widersacher eines Themas auf einer öffentlichen Ebene zusammen. Es gibt einen Kanon an Regeln, geschriebener wie ungeschriebener, die hin wieder gebrochen werden, dies vielleicht sogar müssen und die sich im Laufe der Jahre stetig ändern.
Aber es gibt auch Grenzen. Die mit dem Kapitalmarkt beauftragten Dienststellen der EU-Kommission sind, so scheint es, gerade eifrig dabei, diese auf höhere Weisung hin auszutesten.
Ein regulatorisches Monstrum, das auch nach dem Eindruck vieler technisch versierter Experten in der Kommission selbst nur dazu dient, der derzeitigen Kommissarin McGuinness öffentlich Erfolgsmeldungen zu verschaffen, wurde Ende Juni nun in die Brüssler Gesetzgebungsmaschine eingespeist. Positive Auswirkungen auf das Anlageumfeld der Privatinvestoren im Binnenmarkt sind von den Vorschlägen kaum zu erwarten, die drohenden negativen Kollateralschäden hingegen sehr wohl absehbar. Die Rede ist, man ahnt es, von der sogenannten «Retail Investment Strategy».
Von Anfang an war unklar, was die Kommission eigentlich wollte. Anzeichen für eine schludrige Umsetzung der europäischen Regeln zum Verbraucherschutz fehlen völlig. Schliesslich haben sich ja eine Unzahl nationaler Behörden in der EU, nachdem ihnen die Bankenaufsicht in Folge der Lehman-Krise weitestgehend weggenommen wurde, frenetisch auf den Verbraucherschutz gestürzt. Das führte dann oft zu einem Wust an zusätzlichen Bestimmungen, die entweder direkt oder indirekt (als «Genehmigungspraxis» im Graubereich) weiter fröhlich Urständ feiern. Es verwundert dann natürlich nicht mehr, dass in diesen überregulierten Märkten interessante (sprich: potentiell renditestarke) Finanzprodukte meist nur noch im Wealth Management angeboten werden, während der Durchschnittsanleger nur ein von mehreren Compliance-Prüfungen vorsorglich arg ausgedünntes Regal
vor sich sieht. Dieser (!) Umstand hat im Übrigen zu gewissen Fehlallokationen von Privatkundenvermögen geführt, da die Koppelung eines total überregulierten Umfelds mit der (nun vergangenen) Nullzinsphase viele Kleinanleger in den beschriebenen Märkten schlicht aus Renditezwängen von ihrer Bank weg und massiv zu «alternative assets», gleich welcher Art, hin geführt hat.
Aber zurück zur Retail Investment Strategy – wer nun gehofft hatte, dass das Problem von national stark unterschiedlich regulierten Kapitalmärkten in der EU endlich durch die Kommission addressiert würde, sieht sich enttäuscht. Diese Frustration ist umso grösser, als die Behörde zur Eindämmung solcher nationalen Alleingänge ja ein ausdrückliches Mandat hat. Das Zauberwort heisst hier «Behinderung des Binnenmarktes». Eine solche liegt eigentlich jedes Mal vor, wenn durch nationales Recht ohne erkennbaren Grund Sonderregeln, die über das EU-Recht hinausgehen (euphemistisch von den Mitgliedsstaaten gerne als «gold plating» bezeichnet), eingeführt werden, aber in der Realität eigentlich nur Vertriebsschranken für (Finanz-)unternehmen aus anderen Staaten darstellen. Natürlich riskiert die Kommission heftige Konflikte mit einzelnen Regierungen, sobald sie mit ihrem Binnenmarktmandat Ernst macht.
Es scheint ja auch auf den ersten Blick viel einfacher, dem Regelungswust noch ein paar Seiten hinzuzufügen. Allerdings muss man sich auch hier mit der Begründung etwas anstrengen. Und da liegt leider der nächste Hase im Pfeffer. Die an einen externen Partner outgesourcten Vorarbeiten der Kommission zur Retail Investment Strategy sind völlig unzureichend (die extrem wichtigen steuerliche Aspekte für Privatanleger wurden zum Beispiel komplett ignoriert) und mussten zu entscheidenden Punkten (vor allem dem Retrozessionsverbot) im Nachgang bereits peinlich korrigiert werden, ohne dass die Korrektur zu einer besseren Datenlage geführt hätte. Nur beispielhaft sei das Dilemma des erwähnten Verbotes vertieft. Nachdem man auf massivsten Druck vieler Beteiligter davon absehen musste, das Provisionsverbot für das Beratungsgeschäft vorzuschlagen, bezieht es die Kommission nun auf … das Nichtberatungsgeschäft. Verstehe das, wer will. Das Kernargument für das Verbot war doch der vermeintliche Interessenkonflikt des Beraters, der nach Sicht der Kommissarin nur danach trachtet, dem Kunden irgendwelche Produkte anzudrehen, solange diese ihm eine höhere Provision einbringen. Im Nichtberatungsgeschäft kann es doch aber dann diesen Interessenkonflikt gar nicht geben, da ja … nicht beraten wird. Die Liste derartiger Unerklärlichkeiten liesse sich fortsetzen.
Was vielen Beobachtern des Dossiers neben der fehlenden sachlichen Tiefe auch auffällt, ist die rüde Missachtung von formellen Usancen, die es allen Betroffenen (auch, aber eben nicht nur der Industrie) ermöglichen sollen, ihre Meinung so kundzutun, dass sie Beachtung in der Debatte findet. Da wurden von der Kommissarin vor Verkündung der Strategie «Runde Tische» anberaumt, deren Themenzuschnitt, Rolle im politischen Prozess und Einladungskreis völlig undurchsichtig waren. Gleichzeitig betrieb (und betreibt) ihr Stab massivste Öffentlichkeitsarbeit mit dem leicht erkennbaren Ziel, Zweifel an der Werthaltigkeit der Vorschläge zu zerstreuen. Plötzlich auftauchende Gutachten zu längst diskutierten Fragen, denen der Gefälligkeitscharakter schon am Titel abzulesen ist, überraschen niemanden mehr. Kurz vor der Veröffentlichung der Vorschläge wurde nicht einmal davor zurückgescheut, die Vertreter aller Mitgliedstaaten schon einmal vorab gesammelt (aber eben komplett ausserhalb des vorgesehenen Verfahrens) einzuladen, um sie, man kann leider kein anderes Bild finden, allesamt «auf Linie» zu bringen. Letzeres musste natürlich absehbar am Stolz vieler Staaten auf ihre nationalen Errungenschaften beim Verbraucherschutz scheitern und wird in den kommenden Wochen noch für heftige Debatten sorgen.
Den Frust vieler EU-Beamter über die aus dieser politisierten Arbeitsweise entstehende mangelhafte Qualität der Gesetzesentwürfe kann man nur zu gut nachvollziehen. Ein gutes Stück mag es denn auch an dieser Kritik von innen liegen, dass die Arbeitweise der Generaldirektion in den vergangenen Monaten zunehmend selbst zum Gegenstand der politischen Diskussion wurde. Ein inhaltlicher Erfolg, soviel wage ich vorherzusagen, wird dieses Dossier für die amtierende Kommissarin nicht mehr werden.
Es grüsst aus Brüssel
Ihr Thomas Wulf
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Der Artikel spiegelt allein die persönlichen Ansichten des Autors.