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payoff Learning Curve

Tiefer Blick in das Seelenleben

22.03.2023 5 Min.
  • Serge Nussbaumer
    Chefredaktor

An der Volatilität lässt sich die Stimmung unter Investoren schnell ablesen. Zuletzt herrschte an der Wall Street eine etwas stärkere Nervosität als diesseits des Atlantiks. Wegen ihrer speziellen Eigenschaften wird die Volatilität zur Portfolioabsicherung verwendet – solche Strategien haben jedoch ihren Tücken.

Meistens reicht ein kurzer Blick, um das Seelenleben eines Menschen zu ergründen. Und doch ermöglicht die Mimik – von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt – ein riesiges Repertoire an Stimmungen. Noch schwieriger wird die Sache, wenn es darum geht, ein Bild von der Gemütslage ganzer Personengruppen oder gar Gesellschaften zu zeichnen. Hierfür braucht es aufwendige Umfragen. Die Börse kennt einen Ausweg: Mit Hilfe der Volatilität kann die mentale Verfassung der Marktteilnehmer beurteilt werden. Generell steht diese Kennziffer für die Schwankungsbreite eines Wertpapiers über einen bestimmten Zeitraum. Je höher sie ausfällt, desto stärker weicht der entsprechende Kurs von seinem Mittelwert ab. Gleiches gilt umgekehrt. 

Es gibt zwei Arten von Volatilität: Historische Werte zeigen, wie stark sich der Kurs in der Vergangenheit nach oben und nach unten bewegt hat. Die implizite Vola­tilität steht dagegen für die erwartete Bewegungsintensität und resultiert aus den am Terminmarkt festgestellten Optionspreisen. Zum Gradmesser für die kollektive Gefühlslage wird die Volatilität durch die Art ihrer Entstehung. Sie bewegt sich, sobald die Stimmung kippt. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn eine bestimmte Aktie bei den Investoren in Ungnade fällt und der Kurs nach unten dreht respektive eine Zick-Zack-Bewegung aufnimmt. Dagegen zieht eine weichende Verunsicherung für gewöhnlich einen Rückgang der Schwankungsintensität nach sich.

«Zum Gradmesser für die kollektive Gefühlslage wird die Volatilität durch die Art ihrer Entstehung.»

US-Angstbarometer wird 30

Volatilitätsindizes geben die Kennzahl für ganze Märkte wieder. Aufgrund der skizzierten Vola-Eigenschaften gelten sie auch als «Angstbarometer» der Börse. Der wohl bekannteste Gradmesser dieser Art feiert in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag. 1993 wurde der Cboe Volatility Index, kurz VIX, lanciert. Seine Berechnung erfolgt an Hand von Mittelwerten der Geld-/Briefkurse von Optionen auf den S&P 500 Index. Der VIX zeigt, wie stark der US-Leitindex in den kommenden 30 Tagen, ausgehend von jeder einzelnen Wertermittlung (Tick) schwanken könnte. 

Zum runden Jubiläum attestiert das Barometer der Wall Street ein relativ normales Nervenkostüm. In den ersten beiden Monaten des Jahres bewegte sich der VIX im Bereich seines langjährigen Durchschnitts (siehe Grafik 1). 2022 sah das noch ganz anders aus: Mit 25.6 lag der durchschnittliche VIX-Tagesschlusskurs um gut ein Viertel über dem Mittelwert. Neben dem Ukrainekrieg hatten die überbordende Inflation und der damit einhergehende Zinsanstieg das Stresslevel erhöht. Zu einem derart starken Ausschlag nach oben wie zu Beginn der Corona-Pandemie kam es aber nicht. Im März 2020 war der VIX über die 80er-Marke hinausgeschossen und hatte damit das höchste Niveau seit der Finanzkrise 2008 erreicht.

Mehr Gelassenheit in Europa

Der Volatilitätsindex für den Schweizer Aktienmärkt wird demnächst volljährig. Seit April 2005 berechnet die SIX Swiss Exchange den VSMI. «Der VSMI verwendet die impliziten Varianzen über die gesamten an der Eurex gehandelten SMI-Optionen einer Laufzeit», beschreibt die Börse ihre Benchmark. Wie in den USA sind auch hier Restlaufzeiten von 30 Tagen massgeblich. Momentan ist die Unruhe unter den Investoren in der Schweiz weniger stark ausgeprägt als an der Wall Street – der VSMI steht unterhalb des historischen Durschnitts. Gleiches gilt für den VDAX-New, das Volatilitätsbarometer für Deutschland (siehe Grafiken 2 und 3).

Eurozone zieht davon

Die transatlantische Vola-Diskrepanz hängt damit zusammen, dass der US-­Aktienmarkt 2023 schlechter aus den Startlöchern gekommen ist, als viele seiner europäischen Pendants. Während der S&P 500 Index im Januar und Februar nur um rund 4.5% gestiegen ist, legte der DAX prozentual zweistellig zu. Ein Grund für den Vorsprung ist die relativ robuste Verfassung der Wirtschaft in der Eurozone sowie eine solide Berichtssaison. In den USA herrscht dagegen vor allem in Bezug auf die weitere Gangart der Notenbank viel Rätselraten. Ausserdem hat so mancher Grosskonzern – unter anderem Techgiganten wie Apple – während der «Earnings Season» für Ernüchterung gesorgt. Die bestehende Unsicherheit dürfte einige Anleger dazu veranlasst haben, mit Hilfe der Volatilität eine Portfolioabsicherung vorzunehmen. Professionelle US-Investoren greifen hierbei zum grossen Spektrum der auf dem VIX basierenden Optionen und Futures. Da diese Positionen sich für gewöhnlich verteuern, sobald es mit den Kursen nach unten geht, können sie die Verluste im Depot abfedern.

«Für Anleger ohne Zugang zu den Terminmärkten gibt es Alternativen.»

Spezielle Anlagevehikel

Für Anleger ohne Zugang zu den Terminmärkten gibt es Alternativen. Sie können mit Hilfe von Exchange Traded Notes (ETN) oder Exchange Traded Funds (ETF) eine Vola-Positionierung eingehen. Seit gut fünf Jahren zählt der VIX Short-Term Futures ETN (Ticker: VXX) zur Barclays-Palette mit dem Label «iPath». Das Produkt nähert sich dem Wall Street-Angstbarometer über einen von S&P berechneten Basiswert. Zum selben Anbieter greift Lyxor beim S&P 500 VIX Futures Enhanced Roll ETF (ISIN: LU0832435464). Anders als der ipath ETN ist dieser passive Fonds an mehreren europäischen Handelsplätzen kotiert. SIX zählt jedoch nicht dazu. 

Ungeachtet dessen gilt es, die Tücken einer solchen Absicherungsstrategie zu beachten. Sie sollte nur taktisch und kurzfristig erfolgen. Grund: Die Volatilität kehrt im Zeitverlauf immer wieder zu ihrem Mittelwert zurück. Schon allein wegen der so genannten Mean Reversion macht «Buy and Hold» in dieser Anlageklasse keinen Sinn. Hinzu kommt, dass die Volatilität selbst extremen Schwankungen ausgesetzt ist. Insofern spielt das Timing beim Einsatz dieser Instrumente eine wichtige Rolle. Fazit: Es braucht viel Erfahrung und aktives Beobachten der Märkte, um mit solchen Produkten nicht das eigene Nervenkostüm über Gebühr zu strapazieren.

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