Überraschung im Faktor-Dschungel
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Martin Raab
Institutionelle Investoren und Privatanleger setzen verstärkt auf Faktor-Investing und Smart-Beta-ETFs. Die Auswahl der Faktoren ist einfach, da es nur eine begrenzte Zahl von Risikoprämien gibt. Doch bei der Umsetzung im Portfolio beginnen die Herausforderungen. Eine Praxisanalyse zeigt Fallstricke und Chancen.
Mehr und mehr Anleger erreichen den vielfältigen Dschungel der Smart-Beta-ETFs. Unter dem Begriff Smart Beta werden systematische Investmentstrategien verstanden, die das Potenzial haben die marktkapitalisierungsgewichteten Indizes langfristig zu schlagen. Die Gründe hierfür sind – je nach Faktor – unterschiedlich: So sind einige Faktoren ein Ausgleich für grössere Risiken (u.a. die sogenannte «Small-Cap-Prämie»), andere Faktoren lassen sich wiederum durch Verhaltensbesonderheiten erklären. Faktoren sind eine neue Dimension zur Diversifikation des Portfolios – weit über die bisher praktizierte Branchen- und Länder-Allokation hinaus. Und die neue Dimension kommt bei Anlegern zunehmend an: Im Februar 2017 wurde gemäss Zahlen von Bloomberg in den USA die magische Marke von USD 500 Milliarden für in Smart-Beta-ETFs verwaltete Vermögen (AuM) überschritten. Amundi Asset Management berichtet per Ende Juli von AuMs in Höhe von EUR 46.1 Milliarden für die in Europa domizilierten Smart-Beta-ETFs. Allein in den ersten sechs Monaten sind EUR 6 Mrd. in Single-Faktor-ETFs in Europa geflossen.
Was ist ein Faktor?
Doch Vorsicht, bevor man sich auf die Details von Faktor-Investing bzw. Smart-Beta-ETFs stürzt, sollte kurz definiert werden, was überhaupt ein Faktor ist. Die Existenz von Faktoren ist in der wissenschaftlichen Literatur gut dokumentiert. Der Grundstein stammt vom Finanzprofessoren-Duett Fama und French. Deren Aussage lautete vereinfacht: Ein Portfolio hat ein Markt-Beta, das sein Exposure gegenüber dem generellen Markt zum Ausdruck bringt, und ausserdem mehrere weitere Betas, die sein Exposure gegenüber anderen Risikoprämien – wie zum Beispiel der Value-Prämie – beschreiben. Dieses Multi-Prämien-Konzept wurde später von diversen Autoren weiterentwickelt, darunter Mark M. Carhart, der das Momentum als einen Faktor hinzufügte. Ein Faktor ist somit schlicht eine fokussierte Anlagestrategie, die über längere Zeit von der allgemeinen Marktrendite (hoffentlich positiv) abweicht. Faktoren existieren in allen Anlageregionen weltweit und funktionieren über lange Zeiträume.
Es geht auch im Multi-Pack
Zusätzlich kann in einen Faktor («Single Factor») investiert werden oder in mehrere («Multi Factor»). Die Palette der Faktoren ist inzwischen stark gewachsen und häufig verschwimmen die Grenzen bei der Index-Kreation bzw. der angebotenen Portfolio-Strategie. Das ist auch der Grund, warum sich die Masse der Anleger zunehmend im Dickicht von Faktoren verheddert. Besonders genau sollten Anleger bei Multi-Faktor-Strategien hinsehen. Dort droht manches Gebräu aus der Index-Hexenküche im Portfolio mit lautem Knall zu verdampfen – ohne echten Effekt, weil sich gegenläufige Marktbewegungen aufheben. Dennoch: Je nach richtiger Mischung an Faktoren und Gewichtungsstrategien kann es aus zu einer stetigen Outperformance gegenüber dem marktkapitalisierungsgewichteten Index kommen. Wer es dem ETF-Anbieter und seinem Strategie-Team zutraut, kann sich mit dem gezielten Einsatz von Multi-Faktoren ETFs die Qual der Wahl, den jeweils richtigen Faktors im richtigen Marktzyklus zu nutzen, befreien.
Systematisches Vorgehen beim Anlegen – nichts anderes verkörpert Faktor-Investing – soll letztlich auch dazu beitragen, Fehler bzw. Draw-Down-Risiken zu vermeiden.
Bunte Auswahl, robuste Klassiker
Doch zurück zum Stichwort Faktor. Die Grundidee ist simpel: Systematisches Vorgehen beim Anlegen – nichts anderes verkörpert Faktor-Investing – soll letztlich auch dazu beitragen, Fehler bzw. Draw-Down-Risiken zu vermeiden. Die gängigsten Faktor-Strategien sind solche, die nach festen Regeln ein Schwergewicht auf günstige Bewertungen («Value») oder auf kurzfristig starke Performance («Momentum») legen. Andere bekannte Faktor-Varianten sind Strategien, die kleine («Small Cap»), schwankungsarme («Low Volatility»), krisensichere («Quality») oder wachstumsstarke («Growth») Unternehmen bevorzugen. Wie erwähnt, gibt es auch Mischformen wie «Low-Volatility/High-Dividend», bei denen die Ausschüttungen von Unternehmen mit tiefer Schwankungsbreite kombiniert werden. Beschränkungen, was als Faktor bezeichnet werden darf, gibt es nicht. Den Nachweis, dass ein solcher Faktor einen Mehrwert fürs Portfolio bringt, muss häufig erst die Praxis liefern, denn Faktor-Investing erzeugt erst bei mittel- bis langfristiger Haltedauer einen entscheidenden Effekt. Kurzfristiges Hin-und-her-Taktieren bereichert den Broker und die Depotbank, kaum aber den Anleger.
Grosse Bewegung bei den Flows in Faktor-ETFs
Schaut man sich die Flows in Faktor-ETFs und entsprechende Smart-Beta-Strategien, welche an europäischen Börsen kotiert sind, seit Jahresbeginn 2016 an, wird ein grosser Zyklus ersichtlich. Nach Zahlen von Deutsche Bank Research wurden im 4. Quartal 2016 ETFs auf Low-Volatility-Strategien in grossem Stil verkauft und im Gegenzug auf Value-Strategien gesetzt. Dieser Trend flacht sich allerdings im Verlauf von Quartal zu Quartal ab. Im Vergleich stabil – wenn auch auf tiefem Niveau – sind die oben erwähnten Multi-Faktor-ETFs. Die Flow-Statistiken von Amundi machen deutlich, wo sich die Mehrheit der Mittel tummelt: In Dividenden-Strategien. Das überrascht, schliesslich ist dieses Kriterium als Faktor relativ einfach zu isolieren. Dennoch: Der Faktor-ETF macht es noch einfacher. Zur dargestellten Schwankungsanfälligkeit der Flows sei noch angemerkt, dass aktor-ETFs nur dann ein hilfreiches Instrument sind, wenn die Allokation über mittel- bis langfristige Zeithorizonte im Portfolio durchgehalten wird. Offenkundig halten Inhaber von Low-Volatility-ETFs herzlich wenig von diesem Ansatz – oder haben aber das Timing für diese Strategie besser im Griff als viele andere Investoren.
Unterschiede aufgedeckt
Bei aller akademischen Evidenz, dass sich Faktoren für Anlagezwecke nutzbar machen lassen, ist am Ende die eigentliche Wertentwicklung der jeweiligen ETFs interessant. Dementsprechend wurden die Performance und Volatilitäten von ausgewählten, in Europa kotierten Faktor-ETFs, innerhalb des jeweiligen Clusters («Value», «Momentum» und «Low Volatility») analysiert. Und vorab kann gesagt werden: Wieder einmal ist klar ersichtlich, dass die Anlage in passive Finanzprodukte aktives Monitoring erfordert. Bei allen genannten Clustern gibt es Divergenzen, die durchaus zu erheblichen Performance-Unterschieden führen können. Faktor-ETFs sind eben nicht gleich Faktor-ETFs, auch wenn Sie im Titel sehr ähnlich tönen. Zusätzlich – dass würde allerdings den Rahmen sprengen – sind auch Smart-Beta-ETFs auf Faktor-Indizes vom Thema Tracking Error betroffen: also der Differenz der Wertentwicklung zwischen Referenzindex und dem ETF. Die wichtigere Thematik ist übergreifend zu beleuchten: Was hätten mir als Investor Anlagen in unterschiedliche Single-Faktor-ETFs gebracht und welche Wertentwicklung hat zwischenzeitlich am breiten Aktienmarkt stattgefunden? Alle Performance-Daten wurden in Schweizer Franken gerechnet, um höchstmögliche Praxisrelevanz für heimische Investoren darzustellen.
Breites Pendel bei Value-Indizes
Value-Aktien sind solche mit vergleichsweise tiefen Kurs-Gewinn-Verhältnissen bzw. tiefen Buchpreis-zu-Aktie-Bewertungen. Im direkten Vergleich ausgewählter Value-Strategien-ETFs zeigt sich, dass es zwar einen Gleichlauf der jeweiligen Indizes bzw. ETFs gibt, aber zwischen Performance-Anführer und dem ETF mit schwächstem Kursanstieg doch erhebliche Unterschiede auftreten können. Für Profis eine Notiz wert: Auch bei Faktor-ETFs gibt es solche, die den Aktienbestand der Benchmark physisch einkaufen bzw. nahezu identisch nachbilden («optimized sampling» betreiben) und solche, die mit Hilfe von Derivaten (synthetisch) sich die Performance des jeweiligen Value-Index in den ETF hinein angeln. Die beste Wertentwicklung unter den Value-ETFs erzielte auf 1-Jahres-Basis der Easy ETF Equity Value Europe emittiert von der französischen Grossbank der BNP Paribas. Die geringste Wertentwicklung ging auf das Konto des Amundi MSCI Europe Value Factor ETF. Dieser ETF verwaltet mit über EUR 634 Millionen die meisten Mittel, was möglichweise auf die geringe Schwankungsanfälligkeit zurückzuführen ist – Value und Stabilität scheint bei den Anlegern gut anzukommen. Gegenüber dem MSCI Europe Value Index konnten alle ETFs eine Outperformance erzielen – ebenso zum Euro Stoxx 50 Index und MSCI Europe Index. Der Top-Performer legte auf Jahressicht um fast 16.00% gegenüber beiden genannten Aktienbarometern bei erhöhter Volatilität zu. Eine sehr gute Performance lieferte auch der ETF der Deka Bank, welcher so spielend über den Makel der relativ gesalzenen Management-Fee von 0.65% p.a. hinwegkommt.
Tückische Benchmark-Kompositionen
Im längerfristigen Vergleich zwischen dem MSCI Europe Index und dem MSCI Europe Value Index zeigt sich, dass die im Faktor-Index beinhalteten Aktien seit August 2015 zunehmend schlechter performen. Der Faktor-Index von MSCI nimmt «book value to price», «12-month forward earnings to price»und die Dividendenrendite als Filterkriterium, welche Aktien in den Value-Index kommen. Dieser Kriterien-Mix im kapitalisierungsgewichten Value-Index sorgt dafür, dass rund 37% der Bestandteile Aktien aus dem Finanzsektor sind – mit HSBC Holdings als einem der grössten Titel (4.33%) und 30% Ländergewichtung auf britische Aktien. Indexing-Kenner wissen: Diese kommen aufgrund der traditionell hohen Dividendenrenditen auf der Insel naturgemäss häufig in entsprechenden Indexkonzepten vor. Dies kann Fluch und Segen sein: Im Falle des Brexit-Kursrutsches im Juni 2016 war die Auswirkung auf den Value-Index im Vergleich zum MSCI Europe Index negativ. Die unterschiedliche Sektorgewichtung spielte hier ebenfalls eine Rolle. Aus Gesamtoptik ist der Faktor-Value als strategische – nicht taktische – Bereicherung des Portfolios empfehlenswert.
Starke Entkoppelung der Momentum-Indizes
Klare Divergenzen gibt es bei den Momentum-ETFs bzw. deren Indizes. Dort geht es um Long-Anlagen in fortlaufend steigende Aktien – diese werden übergewichtet – während solche mit Abwärtsbewegungen untergewichtet werden. Die ETFs greifen häufig auf «optimized sampling» zurück, sprich es wird nur eine Auswahl an Aktien des Referenzindex in den ETF physisch gekauft. Auf Jahressicht läuft die Performance zwischen den hier ausgewählten europäischen Momentum-ETFs bereits merklich aus dem Ruder: Bei den beiden Global-Momentum-ETFs von Vanguard und iShares liegen nicht weniger als 25% Performance-Differenz dazwischen. Besonders gut läuft bisher der hausgestrickte Momentum-Index der BNP Paribas. Gegenüber dem konkurrierenden MSCI Europe Momentum Net TR Index (1J: +7.69%) liegt dieser mit +13.03% bei der 1-Jahres-Performance deutlich vorne – selbstverständlich bei höheren Vola-Levels. Wenig Unterschiede gibt es übergreifend beim Thema Gebühren: Alle hier analysierten Momentum-ETFs kosten annähernd gleich wenig. Etwas holpriger sind die jeweiligen Volatilitäts-Levels. Beachtlich aus Praxissicht ist die 5-Jahres-Performance zwischen dem Momentum-Index und dem MSCI-Europe-Index. Wie in der Grafik ablesbar, läuft seit 2015 eine sehr starke Entkopplung zu Gunsten des Momentum-Faktor-Index. Somit ist der vielerorts gehörte Ansatz, man kann mit Momentum-ETFs kurzfristig die Performance verbessern am Beispiel des europäischen Aktienmarkts widerlegt – geht sogar auch langfristig.
Tiefe Volatilitäten sind relativ
Ihrem Namen nicht durchgängig alle Ehre machen ETFs bzw. Indizes auf tiefe Volatilitäten: Blickt man auf die Schwankungsbreite von ausgewählten Low-Vola-ETFs und vergleicht diese mit dem breiten europäischen Aktienmarkt (MSCI Europe), kommen die Low-Vola-ETFs schlechter weg. Das Marktumfeld (stark steigende Phasen), hat diese Strategien nicht gerade begünstigt. Eine signifikant tiefere Volatilität als alle europäischen Aktienmärkte hat die CHF-Tranche des UBS Factor MSCI EMU Low Volatility UCITS ETF. In der Tabelle zeigen sich bei den UBS-ETFs auch sehr schön die Effekte diverser Anteilsklassen bzw. Währungstranchen. Ebenfalls sind alle hier abgebildeten ETFs physisch mit Aktien repliziert («full replication»), sprich ohne Swaps oder andere Derivatekomponenten. Eine deutliche Synchronität legen die beiden Low-Vol-ETFs von SPDR und UBS auf europäische Aktien an den Tag. Erstgenannter ist auf den EURO STOXX Low Risk Weighted 100 Index referenziert. Dieser Index umfasst die schwankungsärmsten Aktien aus dem gesamten STOXX-Universum. Obskurer im Namen ist der MSCI EMU Select Dynamic 50% Risk Weighted 100%. Dieser ist die Basis der hier analysierten UBS-ETFs und hat ein starkes Gewicht auf französische (36.7%) und deutsche Aktien (27.7%).
Dennoch: Wer Teile seines Europa-Aktien-Portfolios in den SPDR EURO STOXX Low Volatility UCITS ETF statt in den «ordinären» Euro Stoxx 50 Index investiert hat, wurde reichlich belohnt. Sowohl auf der Risiko- wie auf der Renditeseite ging die Rechnung voll auf. Vorteilhafter bei den Gebühren ist allerdings der EMU-Low-Vol-ETF der UBS. Interessantes Detail ist die Divergenz bei den beiden Low-Vol-ETFs auf den amerikanischen Aktienmarkt. Im direkten Vergleich sind der S&P 500 Index und der MSCI USA Index nahezu 1:1 korreliert. Dennoch unterscheidet sich die Performance des SPDR S&P 500 Low Vol ETFs gegenüber dem UBS Factor MSCI USA Low Vol ETF auf Jahressicht deutlich – bei fast identischen Volatilitäts-Levels.
Bewusstes Research notwendig
Die Exkursion in nur drei Faktoren zeigt deutlich, dass die eigentliche Arbeit in der Index-Analyse liegt. Single-Faktor-ETFs können trotz «gleichem» Faktoransatz in der Praxis deutliche Abweichungen bei der Wertentwicklung und bei Volatilitäten haben. Ein Stück anspruchsvoller wird die Analyse von Multi-Faktor-Produkten und deren Effekte auf neue und bestehende Anlagemandate. Schon bei Single-Faktor-ETFs bedarf der Einbau und die Steuerung im Portfolio ein funktionierendes, modernes Risiko-Management, um Schnittmengen zwischen den Strategien und damit Klumpenrisiken zu identifizieren und zu vermeiden. Gleichzeitig muss auch festgehalten werden, dass sich Smart-Beta-Konzepte fortlaufend weiterentwickeln («Beyond Smart Beta»). Sprich, passive Anlagestrategien verschmelzen in Zukunft weitaus stärker mit aktiven Elementen. «Einfach mal so» in Faktor-Indizes zu investieren wäre ähnlich leichtsinnig wie ohne Kompass oder GPS zur Expedition durch den Amazonas Regenwald aufzubrechen.