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payoff Interviews

Wir sehen die US-Zinsen nach dem letzten Zinsschritt im Mai unverändert bis ins Jahr 2024.

04.05.2023 5 Min.
  • Serge Nussbaumer
    Chefredaktor

Herr Gattiker, «boom» oder «bust» an den Märkten?
Wenn ich zwischen den beiden wählen muss, dann sicher «boom». Doch wie ein Boom fühlt es sich kaum an, denn wir stecken an den Aktienmärkten in einer mühsamen Bodenbildung, die letzten Herbst begonnen hat. Das Ganze braucht viel Geduld und ist immer wieder mit Rückschlägen gespickt. Bisher gab es jedes Quartal eins auf den Deckel. Doch der Trend zeigt wieder nach oben.

Warum?
Die Monsterwelle von Inflation nach der Pandemie klingt ab, wenn auch zögerlich. Als Folge davon neigt sich die Zinsstraffung in der Leitwährung, dem USD, ihrem zyklischen Ende zu. Die Wirtschaft zeigt sich weiterhin widerstandsfähig und insbesondere der Dienstleistungssektor reitet immer noch die Wiedereröffnungswelle. Bei den Banken kracht es zwar im Gebälk, doch bisher scheinen die neuen Regulierungsvorschriften für die Grossen die gewünschte Stabilität zu bringen.

Was für schwarze Schwäne könnten das Szenarium über den Haufen werfen?
Schwarze Schwäne lassen sich per se nicht vorhersehen, da sie völlig Unvorhergesehenes verkörpern. Doch man muss nicht so weit gehen, um unter den bekannten Risiken Handfestes zu finden: eine Ausbreitung der Bankenkrise weltweit, eine geopolitische Eskalation in der Ukraine oder rund um Taiwan sowie eine misslungene Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft rangieren bei den Anlegern zurzeit zuoberst auf der Sorgenliste.

Seit Jahresbeginn steht der S&P 500 bei etwas über 7%, der DAX sogar bei plus 14% und der SMI bei knapp 7%. Sie haben in einem kürzlich veröffentlichten Interview von Pessimismus an den Märkten gesprochen. Wie kommen Sie darauf?
Die meisten Anleger haben diese Erholung mehrheitlich verpasst, jedenfalls die meisten, die versuchen die Märkte zu timen. Gerade in solchen Bodenbildungsphasen gehen die Renditen an den Börsen und die Anlegerstimmung oft getrennte Wege. Oder anders gesagt, muss viel Pessimismus abgebaut werden, bevor die Anleger nicht mehr nur aufhören zu verkaufen, sondern in der Breite einsteigen. Die derzeit besonders schlechte Stimmung machen wir an Anlegerumfragen (nahe den Tiefständen), den Barbeständen bei den Profis (nahe den Höchstständen) und den massiven Leerverkäufen an den US Aktien-Index-Futures fest.

Ein grosses Thema sind die potenziellen weiteren Zinserhöhungen. Was sind da Ihre Erwartungen in Bezug auf die FED, EZB und SNB? Schrauben Sie die Zinsen weiter nach oben bis es bricht oder haben sie es weiterhin im Griff?
Für die Fed erwarten wir einen letzten Zinsschritt von 25bps in diesem Zyklus. Die EZB kommt wohl mit 50bps im Mai und 25bps im Juni. Die SNB wird etwas moderater nachziehen. Alles in allem liegt aber das Ende der Zinsstraffungen in der Luft. Dies im krassen Gegensatz zur Lage von vor zwölf Monaten.

Wie beurteilen Sie die Auswirkungen auf die Wirtschaft? Gibt es ein Soft Landing oder doch eine Rezession?
Für die Weltwirtschaft erwarten wir ein Soft Landing. Das heisst nicht, dass einzelne Volkswirtschaften nicht zwischenzeitlich in eine Schrumpfung abrutschen können. Für die USA steigen die Risiken vor allem für 2024, während China wohl für sich und den Rest der Welt dagegenhalten wird. Weltweit erwarten wir keine synchrone Schrumpfung wie 2008 oder im Pandemieschock im 2. Quartal 2020.

Einige Analysten sehen die Zinsen länger auf einem höheren Niveau verharren. Wie ist da Ihr Ausblick? Allenfalls Ende 2023 bereits wieder Zinsreduktionen?
Die Fed Fund futures sehen den ersten Zinsschnitt noch dieses Jahr. Wir dagegen sehen die US-Zinsen nach dem letzten Zinsschritt im Mai unverändert bis ins Jahr 2024. Für uns wäre eine Zinssenkung ein Zeichen, dass die Fed den Bogen überspannt hat und wieder zurückrudern muss. Das wäre schlecht, denn es würde bedeuten, dass die Fed einer Krise gegensteuern muss. Stabile Zinsen am Ende des Zyklus wären dagegen ein Zeichen der Stärke der Wirtschaft und damit auch gut für die Börsen.

Wie sieht aktuell die Asset-Allokation bei Julius Bär für einen ausgewogenen Anleger aus?
Wir sehen im Moment wenig Grund für eine entschiedene Abweichung von der Anlagepolitik. Für ein ausgewogenes Profil heisst das, rund die Hälfte in Aktien, knapp 40% in Anleihen und den Rest in Alternativen und Barmitteln.

Gibt es Schwerpunkte, die Sie setzen würden?
Ja, derzeit brauchen die Anleger nicht in die riskantesten Bereiche jeder Anlageklasse zu gehen, wie z. B. Ramschpapiere in den US-Anleihen oder kleinstkapitalisierte Wachstumswerte – im Gegensatz zu vielen Phasen der letzten 15 Jahre. Lang laufende Anleihen guter Qualität oder Qualitätsaktien mit stabilen Erträgen und Ausschüttungen geben derzeit einen guten Mix, durch die laufenden Unwägbarkeiten zu steuern.

In Cash an der Seitenlinie stehen, ist langfristig eine schlechte Option. Was empfehlen Sie Ihren Kunden, die aber genau das tun wollen? Wie sollen sie ihr Kapital platzieren?
Die Kunden, die Cash aus Überzeugung halten wollen, haben meist schon klare Vorstellungen, wie sie das bewerkstelligen möchten. Wer nur Pulver trocken halten möchte für einen Einstieg, sollte sich eher über eine mögliche Einstiegsstrategie Gedanken machen.

Welche Ideen und Tipps haben Sie für einen trading-orientierten Anleger?
Die grossen US-Techwerte haben nach einem möglichen Verschnaufer weiter Luft nach oben. Chinesische Aktien haben diesen Verschnaufer wohl schon durchlaufen und könnten auch bis Ende des Jahres weiter überraschen. 

Was sind Ihre drei Schweizer Aktienfavoriten für das verbleibende Jahr 2023?
Nestlé als unser Wachstumsprimus unter den Grossen, Richemont als Chance für Chinas Wiedereröffnung sowie Lonza als langfristiger Wachstumswert im Gesundheitswesen.

Vielen Dank!

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Christian Gattiker-Ericsson, CFA, CAIA ist Chefstratege und globaler Leiter Research bei der Bank Julius Bär. Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege, Aktienanalyst und Ökonom bei verschiedenen Schweizer Banken, und bei einer unabhängigen Investor Relations Agentur als Consultant für börsenkotierte Unternehmen im In- und Ausland. Inhaltlich beschäftigte er sich insbesondere mit der Analyse von Einzelunternehmen, Aktienstrategie wie auch der Anlagepolitik über verschiedene Anlageklassen. Christian Gattiker hat seine Studien als lic. rer. pol in Volkswirtschaft und Politologie an der Universität Bern abgeschlossen.

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