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payoff Interviews

ESG im Jahr 2023: Lebendig und erfolgreich oder vor neuenHerausforderungen?

04.12.2023 12 Min.
  • Serge Nussbaumer
    Chefredaktor

Ende 2022 lautete das Motto «ESG ist tot, es lebe ESG». Wie würden Sie das Thema ESG im Jahr 2023 zusammenfassen?
Timothée Jaulin: Eine Herausforderung von ESG ist, dass das Thema für verschiedene Akteure unterschiedliche Bedeutungen hat. Wenn man ESG als zusätzliche finanzielle Indikatoren und Risikofaktoren betrachtet, die bei der Analyse von Unternehmen und Finanzinstrumenten verwendet werden sollten, ist ESG aktueller denn je. 

Es zeigt sich immer deutlicher, wie strenge Umwelt- und Klimagesetze sowie wichtige Politikpakete heute umgesetzt werden. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass immer mehr Investoren die Tragweite und die Substanz von ESG-Faktoren erkennen. ESG bietet ihnen auch die Möglichkeit, die Eigenschaften bestimmter Produkte und Produktkategorien bezogen auf ihren Anspruch an ökologische, soziale und Governance-Leistungen zu beschreiben. Wir glauben, dass die Debatte aktuelle aus guten Gründen geführt wird, denn es besteht ein grosser Bedarf, Nachhaltigkeitsansprüche sehr klar zu adressieren. Ausserdem stellen wir fest, dass die Nachfrage von Anlegern nach Produkten mit höheren Nachhaltigkeits-Features hoch ist, wobei der Schwerpunkt auf nachhaltigen Themenfonds und Impact-Finanzierungen liegt.

Die Zuflüsse in ESG-Fonds (zumindest in den USA) sind in der zweiten Jahreshälfte 2022 zum ersten Mal zurückgegangen. Wie ist die Situation bei Amundi bzw. in Europa allgemein?
Timothée Jaulin: Zunächst eine kurze Anmerkung: Es ist sehr wichtig, die Zusammenhänge zu verstehen. Das Anlagevolumen in verantwortungsbewussten Investmentprodukten ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Heute gibt es ESG- oder nachhaltige Investmentfonds in allen Anlageklassen und für alle Anlageformen. Bei der Analyse der Mittelzuflüsse muss dies berücksichtigt werden. Wenn Anleger massiv aus Aktien in Obligationen umschichten, von passiv zu aktiv oder umgekehrt von aktiv zu passiv switchen, dann schlägt sich das deutlich in den Flows nieder. So oder so ist verantwortliches Investieren heute keine Nische mehr. 

Allerdings haben wir festgestellt – und das könnte sowohl in den USA als auch in Europa der Fall sein –, dass sich die Nachfrage nach verantwortungsbewussten Investmentfonds insgesamt stabilisiert hat, dass es aber in den verschiedenen Segmenten sehr grosse Unterschiede gibt. Konkret haben wir eine gestiegene Nachfrage nach Klima- und Net-Zero- sowie Impact-Fonds gesehen und Abflüsse bei sehr einfachen ESG-Strategien. Vor allem bei passiven Produkten haben wir in diesem Jahr bisher erhebliche Nettozuflüsse verzeichnet. Produkte, die auf den Climate Transition Benchmarks (CTB) und den Paris Aligned Benchmarks (PAB) basieren, wurden stark nachgefragt. Insbesondere ETFs auf PAB-Indizes, also die ehrgeizigere Version dieser beiden Benchmarks, standen hoch in der Anlegergunst.

Wenn Sie den drei Buchstaben (ESG) eine Gewichtung zuweisen müssten, wie würde sie aussehen? Gleiche Gewichtung oder würde der Schwerpunkt auf dem E liegen?
Timothée Jaulin: Das ist eine sehr gute Frage. Was die Perspektive des Portfoliomanagers anbelangt, würde ich sie gerne an Alban de Faÿ weiterleiten. Bezogen auf die Produkte und die Mittelzuflüsse sieht es etwas anders aus, weil das Angebot von E-, S-, und G-Fonds sehr heterogen ist. Es gibt viel mehr Umwelt- als Sozial- und Governance-Themenfonds. Das heisst, dass wir entsprechend viel mehr Zuflüsse in Umweltfonds gesehen haben. Ich glaube allerdings nicht, dass dies am mangelnden Anlegerinteresse liegt, sondern einfach daran, dass es weniger Produkte gibt. Das zeigt sich daran, dass wir eine merklich wachsende Nachfrage nach Investitionen in Produkte mit Fokus auf einen Natur-Impact, Biodiversität sowie konkrete Themen wie zum Beispiel Plastik haben. Neben dem seit langem sehr dominanten Thema Klima, gewinnen die neuen Aspekte immer mehr an Bedeutung. Dazu zählen auch Social-Impact Fonds, für die wir Nachfrage, aber nur ein sehr geringes Angebot sehen. 

Alban de Faÿ: Weltweit ist zu beobachten, dass sich Investoren stark für Umweltthemen interessieren. Mehr Nachfrage sehen wir auch bei sozialen Themen, die etwas komplexer sind. Für den Bereich Governance ist es natürlich sehr schwierig, spezielle Fonds zu finden. Bei Amundi vertreten wir die Philosophie, E-, S- und G-Faktoren bei der Bewertung von Unternehmen simultan zu berücksichtigen. Ausserdem setzen wir uns energisch für eine faire Energiewende ein, die soziale Aspekte berücksichtigt und soziale Ungleichheiten bekämpft. Betrachtet man jedoch den Markt für so genannte Sustainable Bonds, d. h. Green, Social und Sustainability Linked Bonds, so wird das Geschehen eindeutig von Green Bonds bestimmt.

2023 wird von Technologieunternehmen und künstlicher Intelligenz dominiert werden. Und hier kommt die Frage der Performance bei ESG-Investitionen ins Spiel. Wie sehen Sie das?
Timothée Jaulin: Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, da es keinen einheitlichen ESG-Investmentprozess gibt – genau so wenig, wie es nicht nur eine Art von ESG-Investmentfonds gibt. Es wird sehr stark davon abhängen, wie ESG-Faktoren in die definierten Rahmenbedingungen, Ziele und Vorgaben integriert werden. Es stimmt natürlich, dass nachhaltige oder verantwortungsbewusste Investments einige strukturelle Biases haben können – darauf zielt Ihre Frage ja wahrscheinlich ab. Wenn nachhaltige Anlagestrategien bestimmte Schwerpunkte setzen, kann man schlussfolgern, dass sie naturgemäss in bestimmten Sektoren oder Regionen als Folge ihres Produktversprechens weniger engagiert sind. Je nachdem, wie die über- und untergewichteten Aktivitäten, Regionen und Sektoren dann abschneiden, kann das natürlich auf die Wertentwicklung durchschlagen. Das heisst, dass man infolge von Faktor- und Sektor-Biases dann unter oder auch über traditioneller Benchmarks liegen kann. 

Wie geht es weiter mit ESG? Das Thema ist für institutionelle Anleger nach wie vor sehr wichtig. Muss sich etwas ändern?
Timothée Jaulin: Zunächst ist festzuhalten, dass es zwischen professionellen und institutionellen Investoren einerseits und Privatanlegern andererseits häufig ein unterschiedlich ausgeprägtes Verständnis gibt. Gleichzeitig gibt es auch unter Privatanlegern Menschen, die zu den fortschrittlichsten und engagiertesten Nachhaltigkeitsinvestoren zählen. Aus diesem Bereich sehen wir beispielsweise eine grosse Nachfrage nach Impact Investing. Das ist in der Schweiz so, aber unter anderem auch in Belgien und in Frankreich. Dennoch sehen wir zwei Defizite: 

Erstens das Finanzwissen und die Bereitschaft, sich mit Investmentfragen auseinanderzusetzen. Man sollte sich die Zeit zu nehmen, die verschiedenen Angebote zu verstehen und herauszufinden, was man mit seinem Ersparten machen kann beziehungsweise welche Vor- und Nachteile die einzelnen Lösungen haben. Im Vergleich zu den USA und einigen asiatischen Ländern müssen wir in Europa noch an der Finanzkompetenz arbeiten. Zweitens geht es auch um die Produktwahrheit und -klarheit. Wir müssen auf Fantasiewörter, Akronyme und Fachjargon verzichten und mit einfachen Worten erklären, was wir tun, welche Auswirkungen dies hat und warum wir glauben, dass es den Präferenzen der Sparer entspricht.

Die EU hat Anfang Oktober die neue Verordnung für europäische grüne Anleihen angekündigt. Was ist neu an der Verordnung? Oder die wichtigste Änderung?
Alban de Faÿ: Zunächst einmal war es ein langer Weg, diese den EU Green Bond Standard zu beschliessen. Jetzt haben wir mit den ICMA Principles einen internationalen Standard und mit dem EU Green Bond Standard ein neues Rahmenwerk für europäische Investoren, um bestehende Standards zu verbessern. Standards sind äusserst wichtig, um alle Investoren valide informieren zu können. Es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu finden, den Mehrwert zu erklären und das Vertrauen der Anleger in diese Art von Finanzprodukten zu stärken. Für den Green-Bond-Markt gibt es dabei keine grossen Neuerungen, denn der EU Green Bond Standard basiert auf den ICMA Principles mit zusätzlichen Kriterien. So muss zum Beispiel ein spezieller Impact Report vorgelegt werden, der bei den ICMA Principles nicht verpflichtend ist. Ein weiteres Beispiel sind so genannte Second-Party-Gutachten oder Versicherungen, die dem Investor die Sicherheit geben können, dass der Green Bond dem EU-Standard entspricht. 

Die wichtigste Neuerung für mich ist daher, dass das Vertrauen der Anleger in den Green-Bond-Markt gestärkt wird und die Emittenten eine klare Anleitung erhalten, damit sie sicher sein können, dass ihre Anleihen der EU-Verordnung entsprechen.

Und glauben Sie, dass die Angleichung an die Taxonomie eine grosse Veränderung für Sie als Portfoliomanager darstellt?
Alban de Faÿ: Sie haben Recht – dies ist eine andere grosse Änderung. Es war sehr schwierig, eine gemeinsame Definition dafür zu finden, was grün ist und was nicht. Die EU-Taxonomie hilft jetzt eindeutig zu unterscheiden und zu bestätigen, ob ein Projekt im Sinne dieser speziellen Verordnung grün ist oder nicht. Das ist ein sehr wichtiger Schritt. Wenn wir diesen Standard haben und ihn anwenden, ist es denkbar, dass die Aufsichtsbehörden in einem nächsten Schritt Steuervorteile für den Emittenten oder den Investor einführen könnte. Dies kann auch dazu beitragen, den Markt zu fördern, indem Anreize für Emittenten oder Investoren gegeben werden, sich für diese Art von Projekten zu entscheiden.

Wie sieht es mit dem Wettbewerb aus, insbesondere mit der ICMA und der CBI? Wird es sie weiterhin geben?
Alban de Faÿ: Sie werden weiter bestehen. Die ICMA Principles sind ein internationaler Standard, während der EU-Standard sehr EU-bezogen ist. Einige US-Emittenten sind zwar in der Lage, Green Bonds nach den ICMA-Prinzipien emittieren, wollen sich aber möglicherweise nicht an die EU-Vorschriften halten. Deshalb brauchen wir einen internationalen Standard. Es stimmt, dass der Markt derzeit regional sehr einseitig ist, da er hauptsächlich von europäischen Emittenten und europäischen Investoren genutzt wird. Und derzeit besteht der Markt für grüne Anleihen im Vergleich zum globalen Markt zu etwa 60 Prozent aus auf Euro lautenden Green Bonds. 

Es gibt also einen starken Trend in Richtung EU. Wir können uns vorstellen, dass der EU Green Bond Standard an Bedeutung gewinnen wird und die ICMA Principles weiterhin am wichtigsten bleiben. Die ICMA hat auch Standards für Social Bonds und Sustainability Linked Bonds formuliert. Wir brauchen alle diese Finanzinstrumente, um die Energiewende im Sinne einer gerechten Transformation zu finanzieren.

Es gibt bereits Stimmen, die sagen, dass diese neue EU-Norm gar nicht zur Anwendung kommen wird. Der Grund dafür ist, dass die Emittenten bereits jetzt die Möglichkeit haben, sich die Konformität zertifizieren zu lassen. Das bedeutet weniger Bürokratie für den Emittenten.
Alban de Faÿ: Die ICMA wird auch in den kommenden Jahren eine führende Rolle spielen. Die Diskussionen über den EU Green Bond Standard begannen erst vor vier Jahren. Jetzt ist er verabschiedet. Es wird jedoch einige Zeit dauern, bis er vollständig umgesetzt und angewendet wird. Die ICMA Principles werden also die nächsten Jahre dominieren und der EU Green Bond Standard wird vielleicht im nächsten Jahr an Bedeutung gewinnen. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, um die ICMA Principles zu ersetzen.

Wird dies Greenwashing verhindern?
Alban de Faÿ: Regulierung kann Greenwashing eindämmen, aber nicht verhindern. Die Regulierung bietet eine klare Orientierung und zusätzliche Sicherheit. Aber wir als Anleger müssen unsere Hausaufgaben machen, um sicherzustellen, dass die Bonds unseren Anforderungen entsprechen. Deshalb haben wir bei Amundi Ressourcen geschaffen, um grüne Anleihen auf weitere Aspekte zusätzlich zur Kreditqualität etc. zu prüfen. Diese Aufgaben können Investoren nicht wegdelegieren. Sie haben selbst dafür zu sorgen, dass sie das Risiko des Greenwashing reduzieren. Bei Green Bonds liegt das Versprechen in der Transparenz. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich daher sagen, dass das Risiko des Greenwashing sehr gering ist. Zugegeben: Manchmal ist es schwer zu verstehen, wie ein Emittent, der weiterhin Kohlekraftwerke betreibt oder finanziert, eine grüne Anleihe begibt, die sogar sehr grün sein kann. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, die Gesamtpolitik eines Emittenten zu berücksichtigen. Dazu ein weiteres Beispiel: Nehmen wir an, Sie finanzieren ein sehr grünes Gebäude für die Erweiterung eines Flughafens. Die Anleihe wird dann im Einklang mit den ICMA Principles stehen. Für unsere Strategie kommt die Finanzierung eines Flughafenausbaus allerdings nicht infrage. Wir sind überzeugt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit dem Pariser Abkommen vereinbar ist, den Ausbau eines Flughafens zu finanzieren. Es ist schlichtweg nicht im Sinne der Transformation, den Flugverkehr weiter auszubauen. 

Für eine Investition muss also zunächst der EU-Standard bzw. der ICMA- oder CBI-
Standard erfüllt sein. Und dann haben Sie Ihre eigenen Kriterien, die sich vor allem am Pariser Abkommen orientieren?

Alban de Faÿ: Nein, im Moment ist das wichtigste Kriterium, um eine Anleihe als Green Bond zu betrachten, dass sie den ICMA Green Bond Principles entspricht. Wir prüfen nun zusätzliche Kriterien und eine Angleichung an die EU-Taxonomie, um beurteilen zu können, ob ein Green Bond dem EU Green Bond Standard entspricht. Aber jetzt geht es erst einmal darum, die Grundlagen zu erfüllen.

Vielen Dank!   

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Timothée Jaulin 
Amundi Asset Management

Timothée Jaulin ist bei Amundi Asset Management verantwortlich für ESG Development & Advocacy sowie für Special Operations im Bereich institutionelle Kunden. Er kam 2012 als Research Associate zu Amundi und trug anschliessend zum Aufbau und zur Entwicklung des Investment Solutions Teams bei, bevor er die Verantwortung für die weltweite Berichterstattung über supranationale Unternehmen übernahm. Vor seinem Wechsel in die Amundi Zentrale in Paris arbeitete Timothée Jaulin für Amundi in London und New York sowie für das französische Finanzministerium in Washington D.C. Timothée ist Absolvent der Ecole Normale Supérieure Paris-Saclay und verfügt über einen Master in Theoretischer und Angewandter Ökonomie der Paris School of Economics.

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Alban de Faÿ 
Amundi Asset Management

Alban de Faÿ vertritt Amundi im ICMA Principles Executive Committee, das 2017 wiedergewählt wurde. Er wurde im Juli 2023 zum Vizepräsidenten des Exco Steering Committee ernannt. Alban de Faÿ kam 2008 als Sustainable Fixed Income Portfolio Manager zu Amundi. Er war massgeblich an der Entwicklung und der Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in Alpha-Fixed-Income-Strategien beteiligt. Vor seinem Wechsel zu Amundi war Alban de Faÿ seit 2000 als Financial Engineer und Multi-Asset Portfolio Manager tätig. Alban de Faÿ hat einen Bachelor of Science in Mathematik und Sozialwissenschaften und einen Master in Mathematik der Universität Paris-Dauphine.

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