«Japan ist das Labor, falls Wachstum nicht mehr weiter vorkommt.»
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Serge Nussbaumer, Chefredaktor
Christian Gattiker, Chefstratege & Leiter Research und Investment Solutions bei der Bank Julius Bär zur aktuellen wirtschaftlichen Situation, der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung und warum Pfeile werfen nicht immer die Lösung ist.
Herr Gattiker, die Verknappung der Dollar-Liquidität hat im Oktober die Börsen stark durchgeschüttelt und zu einer Versteifung der Rendite bei den langfristigen US-Staatsanleihen geführt. Stehen wir am Beginn einer strukturellen Zinswende (inkl. Begründung)?
Wir vermuten es. Die Zeichen einer Trendwende verdichten sich jedenfalls. Doch den Anlegern fehlt noch das Narrativ dazu. Bisher wurden immer tiefere Zinsen als Folge der Überalterung in der Demographie, der technischen Innovation und der Globalisierung in Aussicht gestellt. Doch inzwischen hat sich auch bei diesen langfristigen Treibern einiges gewendet: die Babyboomer haben angespart und fangen an zu konsumieren, und die Alterskohorte der ‘Echo-boomer’, also der Enkel der Babyboomer, strömt in recht grosser Zahl in den Arbeitsmarkt. Die Technologieunternehmen entpuppen sich als grosse Monopole, die über kurz oder lang ihre Preismacht ausspielen werden. Und die Globalisierung ist mit den Handelskonflikten zumindest auf dem Prüfstand. Wir könnten also sehr wohl die Zinswende vor 1-2 Jahren angefangen haben.
Besteht somit die Gefahr einer Überreaktion an den Börsen mit anschliessend negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft – wedelt der Schwanz mit dem Hund?
‘Quantative Lockerung funktioniert nicht in der Theorie dafür in der Praxis’, sagte der ehemalige Federal Reserve Chef einmal sinngemäss. Das heisst, Vermögenseffekte durch steigende Finanzmärkte kann durchaus zu höherem Konsum führen, auch wenn rationale Wesen dieses Spiel durchschauen würden. Umgekehrt kann also auch eine quantitative Straffung über ein Rückführen der Notenbankbilanzen via Verluste am Aktienmarkt wirtschaftlich zu beissen beginnen. Von daher würde ich erwarten, dass die Zinswende umso vorsichtiger vonstattengehen muss. Die Notenbanken werden ab und zu ein Päuschen einlegen müssen.
Was sind mögliche Ursachen für selbstverstärkende Faktoren, die an den Aktienmärkten eine Lawine auslösen könnten?
Die Aktienmärkte haben immer wieder selbstzerstörerisches Potenzial, wenn die Stimmung dreht. 1987 hat sich das schon gezeigt. Inzwischen werden rund drei Viertel der Marktvolumina offenbar von Computern gedreht. Da ist vom Schneebretteffekt bis zur Lawine alles vorstellbar. Verstärkt wird dieser Herdentrieb noch von den mechanischen Regeln, die sich viele menschliche Anleger auferlegt haben. ‘Nie wieder ein 2008er Verlust’ ist die Devise. Von daher kann es gut sein, dass wir in den kommenden Quartalen immer wieder Korrekturen wie im Februar oder Oktober 2018 sehen werden. Das könnte aber auch heissen, dass es immer wieder kleine bis mittelgrosse Schneebretter gibt, aber die grosse Lawine ausbleibt.
Dieses Worst-Case-Szenarium dürfte nicht das von der Bank mittelfristig erwartete sein. Auf welcher wahrscheinlichen zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung basiert die gegenwärtige Anlagepolitik?
Unserer Ansicht nach ist der Scheitelpunkt in den Wachstumsraten in diesem Zyklus überschritten, ohne dass unmittelbar eine Rezession bevorsteht. Dabei dürften die Inflationsraten anziehen in den nächsten 1-2 Jahren. Die Dramatiker werden dann wohl von ‘Stagflation’ sprechen, aber das ist völlig übertrieben. Es ist ein typisches spätzyklisches Umfeld. Wir empfehlen daher bei Aktien zu bleiben und auf den Heimmarkt und auf Qualität, sprich wenig Finanzhebel zu setzen. Bei den Festverzinslichen suchen wir kurze Laufzeiten mit Kreditrisiken zum Beispiel in den Schwellenländern oder Inflationsschutz bei längeren Laufzeiten. Gold mischen wir bei als günstige Absicherung gegen Unsicherheit ab 2020.
Die Märkte fallen in der Regel in eines von vier Szenarien: typisches Marktverhalten, externer Schock, systemische Probleme, wirtschaftliche Kontraktion. Worauf basiert die aktuelle Anlagestrategie der Bank Bär und wie hoch sind die Wahrscheinlichkeiten der drei übrigen?
Wir gehen vom ersten Szenario aus und haben die anderen drei auf dem Radar. Externe Schocks lassen sich auf Grund ihrer Natur nicht beziffern. Von den anderen beiden halten wir eine wirtschaftliche Kontraktion als um einiges wahrscheinlicher als neue systemische Probleme. Aber auch die Kontraktion könnte um einiges später kommen, als viele denken.
Sie haben ein Faible für die sogenannte österreichische Schule. Was fasziniert sie an dieser Theorie und wo sehen Sie Widersprüche zur gängigen neoklassischen Theorie mit ihren mathematisch formulierten Gleichgewichtsmodellen?
Mich fasziniert daran die Bescheidenheit und die intuitive Nachvollziehbarkeit. Bescheiden ist die österreichische Schule, weil sie die Schwierigkeit anerkennt, komplexe Systeme wie unsere Wirtschaft vorherzusagen. Intuitiv ist sie, weil die Vergangenheit ihr weitgehend recht gibt. Die neoklassische Theorie hat ihre Verdienste bei stabilem Zustand des Wirtschaftssystems. In der Krise ist sie fast nutzlos. Umgekehrt hat es die österreichische Schule versäumt, sich dem Versuch der Formalisierung und Modellierung zu stellen.
Bislang hat sich das Schreckgespenst einer Wiederholung der 30er-Jahre nicht bewahrheitet. Was nicht ist, das kann noch werden, zumal die globale Verschuldung seit der Finanzkrise massiv zugenommen hat. Wo Schulden aber nur noch Schulden gebären, droht irgendwann der Systemkollaps. Welche Auswege sehen Sie, dass es nicht zum Schlimmsten kommt?
Plan A ist ‘Rauswachsen’, Plan B ist ‘Monetarisieren’. Die Versuche in den USA, China und jetzt neu auch in Europa nehmen nochmals das Wachstum über höhere Ausgaben in den Fokus. Wenn das nicht funktioniert, steht ‘Japan für alle’ an. Dort hat die Notenbank bald rund die Hälfte der horrenden Staatsschulden auf den Büchern – und immer noch keine spürbare Inflation. Japan ist das Labor, falls Wachstum nicht mehr weiter vorkommt.
Der Zürcher Ethnologe Stefan Leins äusserte sich jüngst kritisch über Finanzanalysten, sie würden keine besseren Prognosen liefern als Affen, die Aktien aus einem riesigen Kosmos auswählen dürfen. Wie kontern Sie als Leiter des Research der Bank Bär diesen Vorwurf?
Das nehmen wir sportlich. Solche Spitzen kommen meist von Leuten, die noch nie öffentlich eine Prognose abgegeben haben. Und das ist sicher auch gut so. Wenn es nach der akademischen Literatur ginge, dürfte an der Generalversammlung von Lindt & Sprüngli nur die Familie und Vertreter der ETFs anwesend sein. Fakt ist dagegen, dass unsere Anleger zum Beispiel wissen möchten, wie viel der Dieselskandal die Volkswagenaktionäre kosten könnte. Oder was passieren muss, dass die Amazon Aktie neue Höchststände bewertungsmässig verdient. Oder schlicht, wie sicher ihre Dividenden bei Schweizer Unternehmen sind. Mit Pfeilewerfen kommen sie bei diesen Fragen nicht weit.
Sie bezeichneten jüngst Ihre Arbeit als Traumjob. Was fasziniert Sie daran?
Nah an den Menschen, nah an den Nachrichten, nah an den Märkten. Die Intensität lässt sich kaum toppen. Und die meisten haben das Gefühl, es ginge bei uns um langweilige Zahlen. Weit gefehlt: die ‘animal spirits’ sind mehr da denn je.
Abschliessend noch drei konkrete Fragen: Für die Schweiz als kleine Volkswirtschaft spielt die Entwicklung des Wechselkurses eine zentrale Rolle. Welche Kursentwicklung des Frankens prognostiziert die Bank Bär in Relation zum Euro und USD im 2019?
Wir haben beim Schweizer Franken 1.15 zum Euro und 0.98 zum US Dollar in den Büchern. Von heute aus gesehen keine Aufreger. Aber der Weg ist häufig aufregender als das Ziel.
Wie sollen sich Schweizer Anleger mit Blick auf das kommende Jahr positionieren?
Investiert bleiben, Schwächen für Zukäufe ausnutzen, aber im Gegensatz zu den Vorjahren auch mal wieder Gewinne realisieren. Es wird ein ähnlich ruppiges Jahr wie 2018, doch der Startpunkt ist bewertungs- und stimmungsmässig ungleich attraktiver als vor zwölf Monaten.
Was sind Ihre persönlichen drei Favoriten?
Ich habe meine drei Pfeile geworfen und sie sind bei Schweizer Aktien von Familienunternehmen, globalen Softwareaktien und Gold stecken geblieben.
Herzlichen Dank!
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VITA
Christian Gattiker-Ericsson, CFA, CAIA ist Chefstratege und globaler Leiter Research & Investment Solutions bei der Bank Julius Bär & Co. Ltd. Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege, Aktienanalyst und Ökonom bei verschiedenen Schweizer Banken, und bei einer unabhängigen Investor Relations Agentur als Consultant für börsenkotierte Unternehmen im In- und Ausland. Inhaltlich beschäftigte er sich insbesondere mit der Analyse von Einzelunternehmen, Aktienstrategie wie auch der Anlagepolitik über verschiedene Anlageklassen. Christian Gattiker hat seine Studien als lic.rer.pol in Volkswirtschaft und Politologie an der Universität Bern abgeschlossen.