Schwäche der deutschen Industrie: Ursachen, Perspektiven und Chancen
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Serge Nussbaumer
Chefredaktor
Herr Gattiker, was sind die Ursachen für die schwache Verfassung der deutschen Industrie?
Der preisbereinigte Auftragsbestand im Verarbeitenden Gewerbe war nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes im März 2024 saison- und kalenderbereinigt um 0.4% niedriger als im Februar 2024. Im Vergleich zum Vorjahresmonat März 2023 lag der Auftragsbestand kalenderbereinigt um 5.8% niedriger.
Der Exportweltmeister leidet an einer schwachen Industrienachfrage weltweit, an seiner Nähe zu China und an hausgemachten Schwierigkeiten. Die globale Industrie findet nach einer schweren Schrumpfung 2022/23 nur langsam wieder in die Spur. Die Überproduktion nach der Coronakrise ist zwar mehrheitlich behoben und die Lager sind weitgehend abgebaut. Doch China stellt die Industrie weiter vor Herausforderungen – gerade im Automobilsektor – und zu Hause sind die Spielregeln politisch ungewiss und die tieferen Energiepreise machen sich noch nicht voll bemerkbar.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage der deutschen Industrie im Vergleich zu den EU-Ländern?
Der Abschwung war markanter und es stellen sich mehr grundsätzliche Fragen zum Standortvorteil von Deutschland. Alles auf die Karte China zu setzen und dies mit starkem Gewicht im Automobilsektor ist ein doppelter Nachteil gegenüber den europäischen Nachbarn, die in beidem weniger stark engagiert sind.
Nach der aktuellen Konjunkturumfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft beurteilen die Unternehmen ihre Geschäftsaussichten überwiegend pessimistisch. Wo hapert es besonders und wo sehen Sie erste Lichtblicke?
Neben China und Autos tun sich die deutschen Unternehmen mit der Politik recht schwer. Hier belasten insbesondere die deutsche Industriepolitik – oder je nach Ansicht die Abwesenheit einer solchen – sowie die Unberechenbarkeit der zukünftigen Regeln im Arbeitsmarkt, bei der Energieversorgung und bei den Steuern und Abgaben. Der Industriestandort wird grundsätzlich hinterfragt. Das mag nichts Neues sein, doch im Moment hat die Verunsicherung über die zukünftigen Leitplanken einen Grad erreicht, bei dem die Entscheidungsträger sich schwer tun, Investitionsentscheide zu Gunsten des Heimmarkts zu treffen. Erste Lichtblicke sieht man dafür in den Vorlaufindikatoren, die darauf hindeuten, dass das Schlimmste erst mal vorbei ist.
Im Podcast «znüni – der Börsentalk» mit Roman Przibylla und Serge Nussbaumer haben Sie kürzlich gesagt, wenn China aufwache, müsse man in die deutsche Industrie investieren. Ist damit die Trendwende geschafft oder was ist nötig?
Noch harzt es da. Die Staatslenker in China versuchen immer noch, den Kern der Krise – den Immobiliensektor – auszusparen. Die jüngsten Massnahmen greifen hier zu kurz. Somit ist zwar die Industrienachfrage dank staatlicher Unterstützung in China angesprungen, was gut ist für die deutsche Industrie. Doch der Verbrauch ist immer noch im Tiefflug, da die Privathaushalte sparen und Schulden zurückzahlen, wenn der Staat nicht zur Hilfe eilt.
Unternimmt die derzeitige Bundesregierung genug, um die Industrie zu unterstützen, oder gibt es Verbesserungspotenzial?
Nach Ansicht der Industrievertreter tut sie zu wenig. Das deutsche Erfolgsmodell, in Russland billig Rohstoffe einzukaufen, diese zu veredeln und anschliessend nach China zu exportieren, hat Schiffbruch erlitten. Ein Ersatz scheint aber derzeit nicht in Reichweite.
Chinas Wirtschaft scheint allmählich aus der Talsohle herauszukommen. Reicht das aus, um der deutschen Industrie neue Impulse zu geben oder stehen dem mittelfristig geopolitische Faktoren entgegen?
Wenn die Erholung in China weiterhin nur industrieseitig erfolgt, wird das auch für die deutsche Industrie eine harzige Sache. Der Streit um Subventionen in China und Strafzölle als Gegenmassnahme gibt noch mehr Gegenwind.
Die Europäische Zentralbank hat angedeutet, dass sie bei ihrer nächsten Sitzung die Leitzinsen erstmals wieder senken könnte. Würde dies dazu beitragen, der Industrie in Europa und in Deutschland neue Impulse zu geben?
Für die Eurozone müssten die Zinsen schon längst sinken; die Inflation ist im Gegensatz zum Ausland eingedämmt und wachstumsseitig schrammt man knapp an einer Rezession vorbei. Zinssenkungen und der damit vermutlich günstigere Euro würden nicht nur der deutschen Industrie etwas Luft zufächeln.
Ist die positive Kursentwicklung des DAX seit Oktober 2023 zu optimistisch oder nimmt die Börse wie so oft einen erwarteten Aufschwung auch in der Industrie vorweg?
Ein ganz klares Nein. Wenn wir die Treiber der DAX Performance seit Anfang des Jahres betrachten, dann ist von Optimismus zum Wirtschaftsausblick nichts zu spüren: Rüstungsgüter, Finanzwerte und Technologie stellen vier der fünf besten Titel mit je über 25% Zuwachs. Der M-DAX – eine Annäherung an den deutschen Mittelstand – liegt bei 0% Zuwachs seit Ende 2023 gegenüber dem DAX mit über +10%. Optimismus und Konjunkturstärke sehen anders aus.
In welchen Branchen sehen Sie die grössten Gewinnchancen am Aktienmarkt mit Blick auf das Jahr 2024?
Wir setzen auf die Elektrotechnik, Halbleiterzulieferer und Logistik.
Welches sind die drei deutschen Industriewerte, die in einem diversifizierten Aktienportfolio nicht fehlen dürfen?
Siemens profitiert von massiven Ausrüstungsinvestitionen in der Elektrotechnik (Stichwort: Energieinfrastruktur) weltweit. Infineon ist ein Marktführer in industriespezifischen Chips, die weltweit gefragt sind. Der Zyklus hat hier, wie bei den jüngsten Zahlen von Analog Devices gesehen die Talsohle durchschritten. Schliesslich ist mit DHL Group eine Logistikgigant zu einem Schnäppchenpreis zu haben.
Vielen Dank!
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Christian Gattiker-Ericsson, CFA, CAIA ist Chefstratege und globaler Leiter Research bei der Bank Julius Bär. Zuvor wirkte er als globaler Aktienstratege, Aktienanalyst und Ökonom bei verschiedenen Schweizer Banken, und bei einer unabhängigen Investor Relations Agentur als Consultant für börsenkotierte Unternehmen im In- und Ausland. Inhaltlich beschäftigte er sich insbesondere mit der Analyse von Einzelunternehmen, Aktienstrategie wie auch der Anlagepolitik über verschiedene Anlageklassen. Christian Gattiker hat seine Studien als lic. rer. pol in Volkswirtschaft und Politologie an der Universität Bern abgeschlossen.