Interviews
Vom peripheren Instrument zur zentralen Strategie
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Serge Nussbaumer
Chefredaktor
Noch vor wenigen Jahren galten ETFs in institutionellen Kreisen als reine Ergänzung – heute sind sie ein zentraler Baustein professioneller Anlagestrategien. Kirst Kuipers, Leiter des institutionellen ETF-Vertriebs bei BlackRock in Europa, erklärt im Gespräch, wie strukturelle Trends, Marktverwerfungen und regulatorische Entwicklungen den Siegeszug der ETFs befeuert haben.
Noch vor einem Jahrzehnt wäre die Idee, dass ein grosser Pensionsfonds oder ein staatlicher Vermögensverwalter börsengehandelte Fonds (ETFs) in seine Hauptanlagestrategie einbezieht, mit höflicher Skepsis aufgenommen worden. «Als ich bei BlackRock anfing, fragten institutionelle Kunden oft, warum wir das brauchen. Wir haben doch schon einen direkten Marktzugang», erinnert sich Kirst Kuipers, Leiter des institutionellen ETF-Vertriebs in Europa.
Heute hat sich dieses Bild jedoch grundlegend geändert. In dieser umfassenden Diskussion skizziert Kuipers die wichtigsten strukturellen Veränderungen, Marktkatalysatoren und zukunftsweisenden Trends, die die Einführung von ETFs bei den grössten europäischen Vermögensverwaltern beschleunigt haben.
Eine Krise, die die Wahrnehmung veränderte
Der Wendepunkt kam, wie Kuipers betont, während der Marktturbulenzen im März und April 2020. «Die Märkte froren ein, insbesondere in weniger liquiden Anlageklassen wie festverzinslichen Wertpapieren, aber ETFs blieben zugänglich. Die Spreads weiteten sich zwar aus, blieben aber innerhalb handelbarer Bandbreiten. Viele institutionelle Anleger nahmen dies zur Kenntnis.»
Dadurch wurde deutlich, wie wichtig Liquidität unter Druck ist. «Pensionsfonds und Versicherer, die in der Regel auf langfristige Verbindlichkeiten ausgerichtet sind, erkannten, dass sie Instrumente benötigen, die schnell auf Marktstress reagieren können. ETFs erwiesen sich als solche Instrumente.» Darüber hinaus hat die Entscheidung der US-Notenbank, festverzinsliche ETFs in ihr geldpolitisches Instrumentarium einzubeziehen, die institutionelle Glaubwürdigkeit der Anlageklasse erheblich gesteigert.
Der strukturelle Reiz: Effizienz und Transparenz
Neben der Krisenbewältigung sind es auch strukturelle Faktoren, die die Einführung von ETFs vorantreiben. «In den letzten zehn Jahren ist der weltweite ETP-Markt von USD 2.5 Billionen auf über USD 15 Billionen gewachsen. Dieses Wachstum hat die Verwaltungsgebühren gesenkt und die Effizienz auf breiter Front verbessert», sagt Kuipers.
Die Gesamtbetriebskosten zeigen dies jedoch noch deutlicher. «Es sind nicht nur die Gebühren. Geringere Geld-Brief-Spannen und reduzierter Tracking Error tragen dazu bei, dass ETFs kosteneffizient sind – oft sogar kosteneffizienter als Mandate oder Direktanlagen.» Er nennt ein überzeugendes Beispiel: Der Handel mit dem BlackRock-ETF IHYG im Wert von EUR 100 bis 200 Millionen könnte etwa 5 Basispunkte kosten. Die Durchführung desselben Handels mit einzelnen Hochzinsanleihen könnte bis zu 60 Basispunkte kosten. «Dieser Kostenunterschied ist erheblich, ganz zu schweigen von der operativen Belastung durch die manuelle Nachbildung eines Index.»
Das weltweit verwaltete ETF-Vermögen wird voraussichtlich von USD 14.7 Billionen im Jahr 2024 auf USD 27 Billionen im Jahr 2030 ansteigen. Allein für iShares wird ein Anstieg des verwalteten Vermögens von USD 4.2 Billionen auf USD 7 Billionen weltweit prognostiziert. Für Europa wird ein Wachstum der ETF-Branche von EUR 2.3 Billionen auf EUR 3.9 Billionen erwartet, wobei die europäischen iShares von EUR 0.9 Billionen auf EUR 1.6 Billionen steigen sollten.
Von der Breitenwirkung bis zum Präzisionsinstrument
Die Nutzung institutioneller ETFs entwickelt sich von einer grundlegenden Diversifizierung hin zu einem sehr gezielten Engagement. «Grössere Anleger nutzen heute in der Regel keine ETFs für ein allgemeines Engagement im MSCI World. Sie setzen sie für bestimmte Kreditsegmente, regionale Aktienausrichtungen oder Sektoren wie Schwellenländer und Hochzinsanleihen ein», erklärt Kuipers.
Nach Angaben von BlackRock entfallen rund 70% des institutionellen ETF-Vermögens in Europa auf Aktien, 29% auf festverzinsliche Wertpapiere und 1% auf Rohstoffe – eine Aufteilung, die die internen Kapazitäten ergänzt. «Viele Institutionen verwalten Staatsanleihen intern. Wenn es um Kredit- oder Nischenmärkte geht, bieten ETFs einen effizienten Zugang.»
Das Muster variiert je nach Grösse der Institution. «Grosse Vermögenseigentümer mit über EUR 100 Milliarden setzen ETFs eher taktisch und mit hoher Granularität ein. Mittelgrosse Institute verlassen sich nach wie vor auf ETFs für ein breites Marktengagement, wenn das interne Fachwissen begrenzt ist. Und Sie verlassen sich nach wie vor auf ETFs, wenn es um ein breites Marktengagement in Anlageklassen geht, bei denen die internen Ressourcen für das Portfoliomanagement begrenzt sind.»
Ruhestandstrends und die Verlagerung von DB zu DC
Eine der wichtigsten langfristigen Triebkräfte für die Einführung von ETFs ist die demografische Entwicklung. Da die europäische Bevölkerung altert, werden die Rentensysteme von leistungsorientierten (DB) auf beitragsorientierte (DC) Modelle umgestellt.
«Heute beläuft sich das DC-Vermögen in Europa auf rund EUR 4 Billionen. Bis 2030 erwarten wir, dass diese Zahl EUR 12 Billionen erreichen wird», sagt Kuipers. «ETFs eignen sich hervorragend für diesen Wandel, da sie Diversifizierung, Transparenz und Wahlmöglichkeiten für Anleger in einem skalierbaren Rahmen bieten.» Er führt die wachsende Beliebtheit von ETF-Sparplänen in Europa als Hinweis auf die künftige Verbreitung von ETF-basierten Vorsorgelösungen an.
ESG und regionale Nuancen
Die Akzeptanz von ETFs ist nicht in allen Regionen gleich. «Zwei Hauptfaktoren beeinflussen die Akzeptanz: die Spezifität der ESG-Anforderungen und die durchschnittliche Grösse der institutionellen Anleger in einem bestimmten Land», erklärt Kuipers.
Für Anleger mit stark individualisierten ESG-Kriterien bieten ETFs möglicherweise keine Lösung, da eine zu enge Anlegerbasis die Liquidität des ETFs einschränken würde. Ebenso kann in Regionen, in denen einige wenige sehr grosse Anleger dominieren, die Akzeptanz aufgrund der Verfügbarkeit von internen Kapazitäten langsamer sein. «Unsere Daten zeigen jedoch, dass sechs von zehn der grössten institutionellen Anleger in jedem der 16 europäischen Märkte bereits iShares-Produkte halten.» Sogar Zentralbanken sind daran beteiligt. «Heute nutzen 17 Zentralbanken in ganz Europa unsere iShares-ETFs», bestätigt er und lehnt es verständlicherweise ab, konkrete Institutionen zu nennen.
Ausweitung des Instrumentariums: thematische, aktive und digitale Assets
Während das ETF-Ökosystem reift, beschleunigt sich die Produktinnovation. «Wir beobachten ein starkes Interesse an Themen wie Verteidigung, künstliche Intelligenz und nachhaltigkeitsbezogene Strategien sowie an aktiven ETFs», sagt Kuipers.
Aktive börsengehandelte Fonds stecken in Europa zwar noch in den Kinderschuhen, aber sie gewinnen an Zugkraft. «Der ETF-Wrapper hat sich als äusserst effizient erwiesen. Die Kombination mit aktiven Anlagestrategien bringt Flexibilität und potenziell zusätzliche Renditechancen.»
Auch das Interesse an digitalen Vermögenswerten steigt. «Der Start unseres US-amerikanischen Bitcoin-ETF war der erfolgreichste in der Geschichte. Obwohl es vielen europäischen Institutionen noch nicht erlaubt ist, in solche Produkte zu investieren, ist das Interesse gross. Wir erwarten eine allmähliche Zunahme der Akzeptanz, wenn sich die Politik weiterentwickelt.»
Blick nach vorn
Obwohl Kuipers von kurzfristigen Marktprognosen absieht, ist er zuversichtlich, was die langfristigen Aussichten für ETFs angeht. «Wir sehen weiterhin ein stetiges Wachstum, insbesondere bei den institutionellen Erstnutzern. In der Schweiz zum Beispiel stammten über 50% der Zuflüsse von institutionellen Kunden im Jahr 2024 von ETF-Erstnutzern. Tatsächlich kamen rund 30% der ETF-Zuflüsse in Europa im vergangenen Jahr von institutionellen Kunden, die zum ersten Mal ETFs kauften.»
Was die Vermögensströme von UCITS-ETFs betrifft, wurden im Jahr 2024 insgesamt USD 14 Milliarden in europäische Aktien und USD 115 Milliarden in US-Aktien investiert. Anfang 2025 kehrte sich dieser Trend jedoch um: Nur USD 9.9 Milliarden flossen in den US-Aktienmarkt, während USD 40 Milliarden in europäische Aktien flossen, was die dynamische Rolle von ETFs bei taktischen Allokationsentscheidungen verdeutlicht. In einem Umfeld, das zunehmend von Kostendruck, regulatorischen Änderungen und globaler Komplexität geprägt ist, werden ETFs zu unverzichtbaren Instrumenten sowohl für die taktische Positionierung als auch für den strategischen Portfolioaufbau.
«ETFs haben sich ihren Platz verdient», schlussfolgert Kuipers. «Was einst eine Nischenlösung war, ist heute ein Kernbestandteil institutioneller Portfolios in ganz Europa.»
Vielen Dank, Herr Kuipers.
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Kirst Kuipers
Managing Director, Leiter des institutionellen iShares-Vertriebs EMEA & Leiter des Vertriebs für offizielle Institutionen in Europa bei BlackRock
Kirst Kuipers ist Managing Director bei BlackRock und verantwortet den institutionellen iShares-Vertrieb in der Region Europa, Mittlerer Osten und Afrika (EMEA) sowie den Vertrieb an öffentliche Institutionen in Europa. Zuvor leitete er iShares Niederlande und war in verschiedenen Führungspositionen bei ING tätig, unter anderem in den Bereichen Strategie, M&A und Private Banking. Seine Karriere begann er bei McKinsey sowie im Finanzmarktgeschäft von ABN AMRO und ING Barings. Kuipers ist Certified European Financial Analyst und hält zwei cum laude Masterabschlüsse in Economics und Business Administration.